Die Angst das Zuhause zu verlieren
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil
17.08.2022 I Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat Zwangsräumungen gegen Landbesetzungen vorerst ausgesetzt. Doch das Urteil droht noch in diesem Jahr auszulaufen. Landlose Familien bangen um ihre Zukunft.
Seit acht Jahren investiert die Landwirtin Mônica Oliveira ihr gesamtes Einkommen in das, was sie liebevoll "meinen produktiven Hinterhof" nennt: zwei Hektar Land in der Besetzung Zé Maria do Tomé in Limoeiro do Norte im nordöstlichen Bundesstaat Ceará. Dort leben sie, ihr Mann und ihre beiden Töchter in einem Lehmhaus. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie mit dem Anbau von Bananen, Papaya, Acerola und der Zucht von Hühnern und Schweinen.
Für einen Moment waren Oliveiras Haus und ihre Arbeit gefährdet: Sie gehörte zu den Tausenden von Menschen, denen jeden Moment die Zwangsräumung drohte. Denn ein Urteil des Obersten Gerichtshof lief aus, das Zwangsräumungen in Brasilien während der Pandemie untersagte. Doch dann beschloss Richter Luís Roberto Barroso, die Aussetzung bis zum 31. Oktober zu verlängern. In seiner Entscheidung forderte Barroso den Vorsitzes seines Gerichtes auf, eine außerordentliche Sitzung virtuell einzuberufen, um die Verlängerung der Aussetzung zu prüfen.
Dies ist die dritte Verlängerung der Maßnahme, die im vergangenen Jahr eingeführt wurde, um die sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zu verringern. Die neue Frist ist jedoch nur eine vorübergehende Erleichterung für die fast 500.000 Menschen, die von Zwangsräumungen bedroht sind.
Die Kampagne Despejo Zero (Null Räumungen), eine Initiative, die 175 Organisationen, soziale Bewegungen und Kollektive zusammenbringt, führte eine Umfrage zur Situation durch. Der Studie zufolge sind allein in den ländlichen Gebieten mindestens 30.000 landlose Familien von Zwangsräumungen bedroht, wenn die Aussetzung endet. Unter ihnen befinden sich 20.000 Kinder unter 12 Jahren.
„Wir können nirgendwo hin“
"Wir haben weiterhin viel Angst. Alle Familien arbeiten auf dem Land, und alles, was sie haben, wurde durch persönliche Anstrengungen verdient. Die Menschen wollen ihr Zuhause, ihre Einkommensquelle nicht aufgeben. Wir können nirgendwo hin", sagt die Landwirtin Oliveira.
Die Besetzung Zé Maria do Tomé, in der sie lebt, wurde 2014 besetzt. Nach mehreren Räumungsklagen leben dort immer noch 70 Familien. Das Gebiet gehört dem Nationalen Amt von Arbeiten gegen Dürre (Dnocs), eine Organisation des Bundes, das bereits eine gerichtliche Räumung erwirkt hat. Der Beschluss wurde nur deshalb noch nicht umgesetzt, weil der Oberste Gerichtshof die Zwangsräumungen ausgesetzt hat. Auf Anfrage von Reporter Brasil gab Dnocs keinen Kommentar zu dem Fall ab.
"Es handelt sich um eine sehr produktive Besetzung mit mehr als 70 Kulturpflanzenarten. Die Frauen stellen immer noch Kunsthandwerk und Süßigkeiten her, die sie auf Märkten verkaufen. Das Land ist unsere Lebensgrundlage. Hier wurden viel Schweiß und Tränen vergossen", sagt Oliveira ergriffen.
Aussagen wie diese findet man vom Norden bis zum Süden Brasiliens. Mindestens 142.385 Familien in städtischen und ländlichen Gebieten sind von Zwangsräumungen bedroht, wenn das Urteil des Obersten Gerichtshofes ausläuft. Darunter befinden sich 97.391 Kinder und 95.100 ältere Menschen, wie aus einer Umfrage der Kampagne Despejo Zero hervorgeht.
"Wir wollen, dass es für die Familien keine Unsicherheit gibt, in der lokale Gerichte Räumungsbefehle ohne den Schutz ihrer Rechte ausführen", sagt die nationale Koordinatorin der Landpastorale CPT, Andreia Silvério.
In den Händen des Gerichts
Die von Richter Barroso festgelegte Verlängerung der Aussetzung auf weitere vier Monaten bezieht sich auf einen Antrag der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), der von 12 sozialen Organisationen unterstützt wird. Der Antrag auf ein Verbot von Zwangsräumungen wurde erstmals im Juni 2021 gestellt. Ursprünglich hatte der Oberste Gerichtshof die Aussetzung bis zum 31. Dezember 2021 gewährt. Die Maßnahme war bereits zweimal verlängert worden: das erste Mal bis zum 31. März 2022 – und nun bis zum 31. Oktober 2022.
Der neue Verlängerungsantrag wurde von mehreren Institutionen unterstützt, darunter dem Pflichtverteidiger des Bundes, dem brasilianischen Institut für Stadtrecht und dem Nationalen Rat für Menschenrechte.
"Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Covid-19-Pandemie noch nicht beendet ist und weiterhin viele Opfer in Brasilien fordert", heißt es in dem Schreiben des Nationalen Rates für Menschenrechte. "Die Folgen der Pandemie sind auch nicht verschwunden, ganz im Gegenteil, sie haben sich durch die anhaltende Arbeitslosigkeit und den Anstieg der Inflation noch verschärft. Das Szenario einer sich verschlimmernden Armut", so das Dokument.
In ihrem Antrag an den Obersten Gerichtshofes forderten die sozialen Organisationen, dass die Verlängerung um ein weiteres Jahr oder bis zum Ende der Auswirkungen der Pandemie, wie von der Weltgesundheitsorganisation WHO festgelegt, gewährt wird. Die von Barroso gewährte Frist war jedoch kürzer.
In einer Erklärung, die Reporter Brasil zugeschickt wurde, erklärte die Agrarreformbehörde INCRA, dass sie nicht am Prozess um die Aussetzung der Räumungsbefehle beteiligt sei und sich nicht über die "rechtlichen Forderungen im Zusammenhang mit besetzten Gebieten, die nicht in die Zuständigkeit der Behörde fallen" äußern könne.
Brutales Vorgehen
Spezialeinheiten. Schlagstöcke. Schutzschilder. Traktoren. Die Szenen, die sich bei der Räumung der Besetzung Quilombo Campo Grande in Campo do Meio im Bundesstaat Minas Gerais abgespielt haben, sind den 459 Familien, die das Gebiet bewohnen, noch gut in Erinnerung. Die Polizeioperation fand im August 2020 statt, also während der Pandemie. Es gab noch keinen Impfstoff, dafür aber klare Empfehlungen an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, um eine Ansteckung zu vermeiden.
Bis zur Entscheidung von Richter Barroso herrschte in der Besetzung ein Klima "großer Angst und ständiger Unsicherheit", wie Tuira Tule, Repräsentant der Landlosenbewegung MST, berichtet. Die Befürchtung war, dass die Bauern Ziel eines neuen Räumungsbefehls sein würden.
Das Gebiet, das dem bankrotten Ariadnópolis-Kraftwerk gehört, wurde vor 22 Jahren von landlosen Bauern der MST besetzt und in zwei Bereiche aufgeteilt. Eines dieser Gebiete, in dem 13 Familien lebten, wurde während der Pandemie geräumt. Das andere, noch bewohnte Gebiet ist ebenfalls Gegenstand eines Zwangsvollstreckungsverfahrens.
Auf Anfrage von Repórter Brasil bestätigte die Verteidigung des Ariadnópolis-Kraftwerks, dass die Möglichkeit einer Räumung bestehe, wenn Zwangsräumungen nicht weiter gerichtlich ausgesetzt werden. Nach Angaben von Diego Cruvinel, Anwalt des Unternehmens, war das Gelände zum Zeitpunkt der Besetzung nicht unproduktiv. Zudem wurde eine Vereinbarung zur Räumung des Gebiets vorgeschlagen, die von den MST-Aktivist_innen jedoch nicht akzeptiert wurde.
Um weitere Operationen zu vermeiden, wurde in dem am Obersten Gerichtshof eingereichten Antrag gefordert, dass die Behörden im Falle einer Nichtverlängerung der Aussetzung für eine angemessene Unterbringung der während der Gesundheitskrise vertriebenen Familien sorgen sollten.
"In den ländlichen Siedlungen geht es um das Überleben der Familien. Sie sind auf das Land angewiesen, um Arbeit zu haben und die Städte mit Lebensmitteln zu versorgen", sagt der MST-Anwalt Diego Vedovatto, der an der Kampagne Despejo Zero beteiligt ist.
Kein Ende der Pandemie
Zuletzt wurde in Brasilien erneut ein Anstieg der Covid-19-Fälle mit einer höheren Zahl von Krankenhausaufenthalten und Todesfällen verzeichnet. Die Fallzahlen haben sich im letzten Monat mehr als verdoppelt: von 26.032 am 31. Mai auf 55.447 am 28. Juni. Das geht aus den Daten des Nationalen Rates der Gesundheitsbüros (Conass) hervor.
"Es ist eine absolute Ausnahmesituation aufgrund der Pandemie", sagt Vedovatto. "Viele der Gebiete mit Landkonflikten sind seit vielen Jahren besetzt, mit unzähligen Versprechungen zur Legalisierung. An diesen Orten gibt es gemauerte Häuser, Straßen, Schulen, Fußballplätze, eine ganze lebendige Struktur, die einer spezifischen und besonderen Analyse bedarf".
Das ist auch der Fall in der Besetzung Quilombo Campo Grande, das mindestens 150 verschiedene Lebensmittel auf agro-ökologischer Basis produziert. Dort halten die Landwirte 100 Stück Vieh, kümmern sich um 250 Bienenkörbe, züchten 15.000 Hühner und bauen 2,2 Millionen Bio-Kaffeepflanzen an.
"Wir haben unsere Häuser, Brunnen, Zäune, die gesamte Struktur der Besetzung ohne staatliche Subventionen, nur mit unserer Kraft gebaut. Wir haben hier viel Arbeit reingesteckt, die Familien haben investiert, was sie hatten, und jetzt laufen wir Gefahr, alles zu verlieren - und das inmitten einer Gesundheits- und Wirtschaftskrise", betont Tuira.
Wissenschaftler_innen, Jurist_innen, Führer_innen sozialer Bewegungen sowie Besetzer_innen sind sich einig: Eine Räumung in einer Zeit der Wirtschafts- und Gesundheitskrise, wie sie Brasilien erlebt, würde die sozialen Probleme des Landes verschärfen, da die Zahl der Obdachlosen, Arbeitslosen und Kinder, die nicht zur Schule gehen, steigen würde.
„Der Staat bietet keine Alternative“
"Bei Zwangsräumungen werden viele Rechte verletzt, zum Beispiel das Recht auf Gesundheit, Nahrung, Wohnung und Bildung. Die Familien in den Lagern haben nur Zugang zu diesen Rechten, wenn sie sich in dem Gebiet aufhalten", erklärt Andreia Silvério von der Landpastorale CPT. "Der Staat bietet den Familien keine Alternative, um sich an einem anderen Ort neu zu organisieren. Sie sind sich selbst überlassen, sind absolut schutzlos und könnten in den Randgebieten der Städte ohne Arbeit obdachlos werden".
Davor fürchtet sich auch der Landwirt Manoel Gomes Pereira, der ein Grundstück in Besetzung Jane Júlia in der Gemeinde Pau D'Arco im nördlichen Bundesstaat Pará besetzt hat, das bereits Schauplatz mehrerer Landkonflikte war. Trauriger Höhepunkte: das Massaker von Pau D'Arco, bei dem vor fünf Jahren zehn Landarbeiter_innen während einer Polizeioperation auf der Farm Santa Lúcia ermordet wurden.
In der Umgebung des Hauses, in dem Pereira mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebt, stellt er Maniokmehl her und baut Kakao, Bananen und Wassermelonen auf agroökologische Weise an. Die gesamte Produktion wird auf Märkten verkauft und sichert den Lebensunterhalt der Familie.
"Ich habe Angst, dass sie mit dem Traktor alles überfahren und meine Plantage zerstören", sagt er sichtlich gerührt. "Die meisten Menschen hier haben keine Alternative. Was sie im Leben erkämpft haben, befindet sich auf diesem Land. Wir wissen, dass es viele Risiken gibt, aber wir sind weiterhin voller Hoffnung.“
Autorin: Sarah Fernandes
Übersetzung/Redaktion August 2022: Niklas Franzen
Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Eingeschobene Absätze sind von der Redaktion erstellt. Der Originaltext erschien am 30.06.2022.
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des