Die Köpfe der Zerstörung
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil
1.9. 2022 I Eine Plattform von Repórter Brasil zeigt, welche Bundesabgeordneten die umweltfeindlichste Politik in Brasilien betrieben. Der Aufstieg von Präsident Jair Bolsonaro hat Vertreter_innen der Agrarindustrie im Kongress gestärkt.
Während Brasiliens ehemaliger Umweltminister Ricardo Salles im Jahr 2020 vorschlug, die Pandemie zu nutzen, um Umweltvorschriften zu lockern, machten sich mindestens 351 Bundesabgeordnete mitschuldig an der Zerstörung der Umwelt. Eine Studie von Repórter Brasil zeigt: 68 Prozent der brasilianischen Abgeordneten, das heißt zwei von drei Abgeordneten, sind Komplizen des von der Bolsonaro-Regierung vorangetriebenen sozial-ökologischen Raubbaus.
Diese Abgeordneten legten Gesetzesentwürfe vor und stimmten über Gesetzesänderungen ab, die Umweltkontrollen einschränken, räuberische Wirtschaftstätigkeiten begünstigen, das Arbeitsrecht unsicherer machen, den Zugang zu Sozialleistungen erschweren und eine Agrarreform behindern, um nur einige Rückschritte zu nennen, auf die Sozial- und Umweltorganisationen hinweisen.
Das fand der Ruralômetro 2022 heraus, einer von Repórter Brasil entwickelten Plattform. Diese misst die Aktivitäten des Abgeordnetenhauses. Das Instrument, das bereits in seiner zweiten Auflage vorliegt, zeigt an, ob sich ein Abgeordneter positiv oder negativ gegenüber der Umwelt, Landarbeiter_innen, indigenen Völkern und anderen traditionellen Völkern verhält.
Um die Abgeordneten zu bewerten, wurden 28 namentliche Abstimmungen und 485 Gesetzesvorlagen in der laufenden Legislaturperiode, die im Februar 2019 begann, analysiert. Die Vorschläge und Abstimmungen wurden von 22 auf Sozial-, Umwelt- und Arbeitsfragen spezialisierten Organisationen bewertet. Jeder Abgeordnete erhielt einen Wert zwischen 36 und 42 Grad - das entspricht der Körpertemperatur. Je schlechter die Leistung des Abgeordneten ist, desto höher ist seine Temperatur. Werte über 37,4 Grad deuten auf eine umweltfeindliche Agenda hin.
Aufstieg der neuen Rechten
Die Ergebnisse der Analyse deuten den Vormarsch der "neuen Rechten" in der Legislative an. Sie zeigen auch die Macht der Parlamentarischen Vereinigung für Landwirtschaft und Viehzucht, die als "Rinderlobby“ bekannt ist und zu der sich zwei Drittel der Abgeordneten rechnen. Nach Einschätzung von Fachleuten begünstigt dieses Szenario die Verabschiedung von Gesetzen, die gegen die Umwelt und Sozial- und Arbeitsrechte verstoßen.
"Mit der bolsonaristischen Welle von 2018 wurde ein Kongress gewählt, der viel weiter rechts steht als die vorherigen. Und wir haben eine indigenen- und umweltfeindliche Regierung, die sich mit dem centrão (Mitte-Rechts-Block im Parlament, Anm. d. Übersetzers) eine Unterstützungsbasis in der Legislative geschaffen hat und eine radikale und regressive Agenda institutionell untermauert", urteilt der Politikwissenschaftler Cláudio Couto, Professor für öffentliches Management an der FGV-Universität in São Paulo.
Analyst_innen betonen, dass eine solche Ausrichtung bereits vorher Realität im brasilianischen Parlament gewesen sei. Allerdings sei es möglich gewesen, Schutzgesetze zu verabschieden, selbst als Agrarlobbyist_innen die Mehrheit im Parlament stellten. Das sagt Suely Araújo, ehemalige Präsidentin der Umweltbehörde Ibama und Expertin der Klimabeobachtungsstelle Observatório do Clima. Dafür sei die Unterstützung der Regierung verantwortlich gewesen. "Das ist mit Bolsonaro verloren gegangen. Das Umweltministerium ist jetzt die erste Institution, die die Umweltzerstörung unterstützt", sagt Araújo, die 29 Jahre lang im Abgeordnetenhaus als Beraterin für Umweltfragen gearbeitet hat.
"Es war ein perfekter Sturm zu Ungunsten der Umwelt, die schlimmste Legislaturperiode seit der Redemokratisierung", urteilt Raul Valle, Direktor für soziale und ökologische Gerechtigkeit beim WWF Brasilien.
Das Zerstörungspaket
Unter den von der Abgeordnetenkammer seit 2019 genehmigten Rückschlägen hebt Kenzo Jucá, Berater der Umweltschutzorganisation ISA, drei Projekte des sogenannten "Zerstörungspakets" hervor. Dabei handelt es sich um die Gesetzesinitiative 6.299/2002, auch "Gift-Gesetzesinitiative" genannt, das die Verwendung von Pestiziden freigibt, einschließlich solcher, die nachweislich krebserregend sind. Daneben betont er die Gesetzesinitiative 2633/2020, bekannt als „Landraub-Gesetzesinitiative“, die Landkontrollen lockert und den Raub von öffentlichem Land erleichtert. Außerdem nennt er die Gesetzesinitiative PL 3729/2004, die in einigen Fällen Selbstlizenzierungen von Land einführt und die Rolle der Umweltbehörden schwächt. Die drei Gesetzesinitiativen liegen bereits zur Abstimmung beim Senat.
Joenia Wapichana (36,6 Grad), die einzige indigene Parlamentarierin im Kongress, sagt, dass Umweltschützer_innen durch den Vormarsch umweltfeindlicher Parlamentarier_innen gezwungen werden, in der Defensive zu agieren und kaum noch Spielraum für eigene Vorschläge hätten. "Wir tun alles dafür, damit die wenigen Rechte der indigenen Völker nicht völlig zerstört werden."
Vor allem männliche Abgeordnete aus den Amazonas-Bundesstaaten und dem Süden des Landes, sowie die Vertreter_innen der "neuen Rechten" fielen mit umwelt- und indigenenfeindlichen Gesetzesprojekten und Abstimmungen auf. Von den 20 Abgeordneten mit den schlechtesten Ergebnissen im Ruralômetro 2022 befinden sich 14 in ihrer ersten Amtszeit. 13 von ihnen sind Mitglied der PL, der Partei von Präsident Jair Bolsonaro. Es handelt sich um neue Parlamentarier_innen, die im Zuge des Aufstiegs von Bolsonaro gewählt wurden und die die traditionellen Verteidiger_innen der Agrarindustrie in der sozialen und ökologischen Demontage überholt haben.
Die neuen Gesichter der Zerstörung
Dies ist beispielsweise der Fall von Nelson Barbudo (42 Grad), dem "Champion" der Rangliste der am schlechtesten bewerteten Parlamentarier_innen. Alle seine acht in die Umfrage einbezogenen Gesetzentwürfe wurden als umweltschädlich eingestuft.
Ein Beispiel ist der Gesetzentwurf, der die Beschlagnahme und Zerstörung von Werkzeugen und Geräten verbietet, die bei Umweltkontrollen beschlagnahmt wurden. Laut einer Einschätzung von Greenpeace schwächt dies die Durchsetzung von Umweltschutzvorschriften. In einem anderen Gesetzentwurf schlug Barbudo vor, die Höchstgrenze für Umweltstrafen von 50 Millionen Reais auf 5.000 Reais zu senken - eine Maßnahme, die ihm möglicherweise sogar selbst zugute kommen könnte, da er der Umweltbehörde Ibama 25.000 Reais schuldet.
Auf Nachfrage äußerte sich Barbudo nicht zu der Tatsache, dass er in dem Ranking am schlechtesten bewertet wurde. Gegenüber Repórter Brasil erklärte er jedoch, dass er sich als "liberaler Bewahrer" definiere.
Im Juli sagte Barbudo vor dem Umweltausschuss des Repräsentantenhauses, der Bundesstaat Mato Grosso sei ein "Modell für den Umweltschutz". "Brasilien hat der ganzen Welt eine Lektion in Sachen nachhaltiger Landwirtschaft erteilt". Daten der Weltraumbehörde Inpe zeigen jedoch, dass in Mato Grosso in den ersten drei Jahren der Bolsonaro-Regierung 5.682 km² abgeholzt wurden, was einem Anstieg von 32 Prozent im Vergleich zu den vorangegangenen drei Jahren entspricht.
Der vom Ruralômetro 2022 am zweitschlechtesten bewertete Abgeordnete ist eine Ausnahme unter den Neulingen in Brasília: Lucio Mosquini (41,3 Grad) sitzt seit 2015 im Abgeordnetenhaus und gilt als traditioneller Großgrundbesitzer. Gegenüber den Wahlgerichten erklärte er, zwei Immobilien im Wert von 2,6 Millionen Reais zu besitzen.
Aus der Feder Mosquinis stammt der Gesetzentwurfs 195/2021, mit dem das Waldschutzgesetz geändert wird, um die Fläche von Naturschutzgebieten, die ohne Genehmigung abgeholzt werden können, von 20 auf 40 Kubikmeter pro Jahr zu erweitern. Sein Argument ist, dass Bauern und Bäuerinnen das Holz für die Nutzung auf dem Grundstück benötigten. Laut Umweltschützer_innen würde der Gesetzesentwurf zu einer Zunahme der Abholzung führen.
Der am drittschlechtesten bewertete Abgeordnete heißt Éder Mauro (40,9 Grad), der sich selbst als "Anführer der Waffenlobby im Norden" bezeichnet. Obwohl er eher für die Liberalisierung der Waffengesetze kämpft, hat sich Mauro auch als Sprecher von illegalen Bergleuten hervorgetan.
Von Mauro stammen mindestens zwei Projekte, die die Durchsetzung von Umweltvorschriften schwächen und den Bergbau begünstigen: Die Gesetzesinitiative 5246/2019, das es kommunalen Behörden erlaubt, Umweltgenehmigungen für Bergbauarbeiten zu erteilen (anstelle der Bundesbehörde), und die Gesetzesinitiative 5822/2019, das die Exploration von Mineralien in kleinem Maßstab in Reservaten erlaubt.
Mauro und Mosquini wurden von Repórter Brasil für eine Stellungnahme kontaktiert, reagierten jedoch nicht auf Interviewanfragen.
Drohende Radikalisierung
Für Raul Valle ist eine Folge des Aufstieges bolsonaristischer Agrarlobbyist_innen auch, dass traditionelle Vertreter_innen der Industrie nun gemäßigt erscheinen. "Die traditionellen Großgrundbesitzer hatten die Überzeugung, dass sie sich nicht gegen eine von der Gesellschaft als wichtig erachtete Agenda stellen können, wie die der Umwelt. Daher haben sie sich immer bemüht, gemäßigt aufzutreten. Aber jetzt haben Vorschläge an Kraft gewonnen, die früher nicht vorstellbar gewesen wären, weil sie dem gesunden Menschenverstand und der öffentlichen Meinung widersprechen.“
Der Direktor der Abteilung für soziale und ökologische Gerechtigkeit des WWF Brasilien glaubt, dass Vertreter_innen der traditionellen Agrarlobby ihren Diskurs nun radikalisieren werden, um den Vertreter_innen der neuen Rechten die Wähler_innen streitig zu machen.
In ihrer ersten Legislaturperiode erzielte die neoliberale Novo-Partei, die acht Abgeordnete stellt, die schlechteste Bewertung im Ruralômetro 2022. "Ich hatte gehofft, dass die Novo-Partei ein Verbündeter in der Umweltfrage werden könnte, der neue Perspektiven einbringt, wie es die europäische Rechte tut. Aber ihr Interessenverbund steht auf der Seite der Regierung und vertritt die Ansicht, dass Umweltvorschriften die Wirtschaft behindern. Das zeigt, dass der brasilianische Liberalismus noch einen langen Weg vor sich hat, um die Umweltagenda zu integrieren", analysiert Valle. Die Novo-Partei wurde von Repórter Brasil kontaktiert, antwortete aber bis zum Redaktionsschluss nicht.
Auch Linke haben Mitschuld
Obwohl vor allem Abgeordnete der brasilianischen Rechten in dem Ranking auftauchen, schneiden auch einige linke Abgeordnete wie Flávio Nogueira (37,9 Grad) schlecht ab. Im Jahr 2021, als er noch der PDT angehörte, stimmte der Parlamentarier für die „Gesetzesinitiative des Landraubes“. Auf Nachfrage lehnte der Abgeordnete eine Stellungnahme ab.
"Es ist erstaunlich, dass es von rechts bis links Parlamentarier gibt, die diese Segmente erreicht haben. Aber je weiter man nach rechts geht, desto mehr steigen die Temperaturen der Abgeordneten", sagt die Politikprofessorin Maria do Socorro Braga.
Der Präsident der Abgeordnetenkammer, Arthur Lira (38,2 Grad) spielt nach Ansicht von Expert_innen eine entscheidende Rolle für den Vormarsch der umweltfeindlichen Agenda. Die Gesetzesprojekte des "Zerstörungspakets" wurden zum großen Teil in seiner Amtszeit beschlossen, die im Februar 2021 begann. Als Verbündeter von Bolsonaro hat Lira versucht, die Genehmigung von Projekten, die für die Regierung von Interesse sind, zu beschleunigen.
"Die Regierung hat ihre Fähigkeit, den Gesetzgebungsprozess zu leiten, weitgehend zugunsten der Präsidenten des Kongresses aufgegeben. Lira ist maßgeblich für diese regressive Agenda verantwortlich", analysiert Couto von der FGV-Universität in São Paulo.
Sein Vorgänger Rodrigo Maia (37,3 Grad) war dagegen offener für den Dialog mit der Opposition und verhinderte laut Raul Valle vom WWF einige ökologische Rückschläge. Im Bereich der Arbeitsrechte zeichnete sich die Ära Maia jedoch durch den Abbau sozialer Rechte aus. Hier ist beispielsweise eine umstrittene Rentenreform zu nennen.
Gefahr einer „Kongressregierung“
Der aktuelle Kongress diktiert nicht nur das Tempo der politischen Agenda, sondern festigte seine Macht mit dem "geheimen Haushalt", der es den mit Bolsonaro und Lira verbündeten Abgeordneten ermöglicht, Bundesmittel bevorzugt für Bauarbeiten in ihren Wahlkreisen zu verwenden.
Mit mehr Macht des centrão (Mitte-Rechts-Block im Parlament, Anm. d. Übersetzers), unabhängig davon, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnt, dürften die Agrarlobby im Repräsentantenhaus weiter wachsen – wenn auch nicht mehr so schnell wie 2018, so die Einschätzung von Expert_innen.
"Der geheime Haushalt wird den Wahlkampf dieser Parlamentarier (die der derzeitigen Regierung nahe stehen) begünstigen. Wir können nicht messen, wie viel, aber sie haben eine vorteilhafte Situation", sagt Couto von FGV, der eine "Kongressregierung" in Brasilien befürchtet – eine Regierung, die von der Legislative geleitet wird.
Von Diego Junqueira, Gisele Lobato und Marina Rossi
Übersetzung/Redaktion August 2022: Niklas Franzen
Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Eingeschobene Absätze sind von der Redaktion erstellt. Der Originaltext erschien am 15.08.2022.
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des