Informelle Beschäftigung: Sozialsysteme, die sich auf die existenziell Armen konzentrieren, reichen nicht
17.3.2022 I Vor der Pandemie arbeiteten 51 Prozent der Erwerbstätigen weltweit im informellen Sektor. In den meisten Ländern haben sie kaum von Hilfsleistungen profitiert. WIEGO-Direktorin Laura Alfers über Lehren aus der Krise.
Nord | Süd news: Frau Alfers, die sozialen Sicherungssysteme erfassen informell Beschäftigte nur marginal, wenn überhaupt. Von der Covid-Pandemie sind diese jedoch besonders stark betroffen, deswegen sollten Hilfen vielerorts unbürokratisch verteilt werden. Wie gut hat das geklappt?
Laura Alfers: Wir sind nicht gut zu ihnen durchgedrungen. Wir haben zwei Studien gemacht – in den ersten drei Monaten 2020 und in der zweiten Welle während der folgenden 12 Monate. Die Ergebnisse zeigen: Weniger als die Hälfte unserer untersuchten Gruppen hat tatsächlich irgendeine Art von Hilfe erhalten, insbesondere Bargeld oder Nahrungsmittelhilfe.
Woran lag das?
Informell Beschäftigte sind in den staatlichen Datenbanken weitgehend unsichtbar. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass es im peruanischen Lima informelle Arbeiter_innen gab, die für die ausgezahlten Zuschüsse in Frage kamen. Sie waren aber nicht in der Datenbank aufgeführt – das Register war veraltet. Oft tauchen informell Beschäftigte in solchen Registern gar nicht auf. Allerdings sind viele informell Beschäftigte auch nicht arm genug, so dass sie für diese Art von Unterstützung nicht in Frage kommen – auch sie bleiben außen vor.
Hat die digitale Kluft eine Rolle gespielt?
Vor allem in den ersten Tagen der Auszahlung haben viele Regierungen – unter anderem die in Südafrika – darauf gesetzt, dass die Hilfen über Konten und sogenannte E-Wallets (etwa google oder apple pay – die Red.) per Smartphone beantragt und ausgezahlt werden könnten. Viele informell Beschäftigte besaßen aber keine Bankkonten und hatten auch keinen Zugang zu solchen Bezahldiensten. So hatten sie keine Möglichkeiten, persönlich nachzufragen, warum Anträge abgelehnt wurden.
Was haben Organisationen wie WIEGO getan, um die soziale Sicherung im informellen Sektor zu verbessern?
Wir unterstützen ja in erster Linie die Organisationen von informell Beschäftigten, damit diese sich dann in deren Namen für bessere Sozialversicherungssysteme einsetzen können. Wir vermitteln aber auch zwischen Arbeitnehmer_innen und international tätigen Organisationen sowie Regierungen. In Südafrika zum Beispiel bringen wir gerade Organisationen von Hausangestellten mit Mitteln von UN Women (die Einheit der Vereinten Nationen für Gleichberechtigung – die Red.) zusammen, um die Versäumnisse der Arbeitslosenversicherung zu untersuchen. Wir unterstützen sie darin, Forderungen zu entwickeln, die sie gemeinsam den Regierungsvertreter_innen vorlegen können. Wir hoffen, dadurch ein echtes Gespräch zu initiieren, welche Reformen notwendig sind.
In einigen Ländern ist es besser gelungen, die informell Beschäftigten in die Pandemiehilfen miteinzubeziehen – was haben sie anders gemacht?
In der thailändischen Stichprobe unserer Studie hatten die meisten Menschen Zugang zu Hilfsmaßnahmen. Das liegt daran, dass Thailand innovative Geldtransfer- und Unternehmensförderungsprogramme eingeführt hat, die auf die informelle Wirtschaft abzielen. Beeindruckend war, wie sie dabei mit den Organisationen der informell Beschäftigten zusammengearbeitet haben. Auch in Argentinien hat man 2020 informelle Arbeitnehmer_innen in den sozialen Dialog einbezogen, als man Ausschüsse für soziale Notlagen eingerichtet hat. Das ist besonders, denn meist sind sie ausgeschlossen, weil sie nicht als organisierte Arbeiter_innen angesehen werden. In Argentinien spielten sie nun eine wichtige direkte Rolle bei der Interaktion mit der Regierung und erreichten schließlich eine Aufstockung der Nahrungsmittelhilfe.
Das Fazit Ihrer Untersuchungen?
Eine der großen Herausforderungen der Zukunft besteht darin, dass die Sozialschutzsysteme alle Menschen abdecken müssen. Sozialsysteme, die sich auf die existenziell Armen konzentrieren. reichen nicht aus, denn sie lassen viele arbeitende Menschen ohne sozialen Schutz. Hier scheint es zwar einen Vorstoß von Akteuren wie der Weltbank zu geben, die meinen, dass ein umfassendes Sozialschutzsystem ein Sicherheitsnetz für die Ärmsten und Ansparkonten für die Nicht-Armen beinhalten müsste. Das Problem dabei ist aber, dass selbst weniger arme informelle Arbeiter_innen nicht regelmäßig genug verdienen, um einen sinnvollen Beitrag auf ein Sparkonto einzuzahlen.
Was wäre Ihrer Meinung nach besser?
Wir brauchen eine universelle Sozialhilfe. Dazu können Instrumente wie Kindergeld und Sozialrenten gehören. Wir müssen dabei aber kreativ denken, damit die Finanzierung dann nicht wiederum zu Lasten der Ärmsten geht. Ihre wirtschaftliche Situation muss sich auf jeden Fall verbessern. Sie brauchen Zugang zu Märkten, zu städtischer Infrastruktur und gegebenenfalls auch zu Kapital, um das Einkommen zu unterstützen. Ganz wichtig ist der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Kinderbetreuung – besonders für Frauen, damit sie ihr eigenes Auskommen sichern können.
Das Interview führte Martina Schwikowski. Sie ist Journalistin und hat viele Jahre als Korrespondentin aus dem südlichen Afrika berichtet.
Laura Alfers ist Direktorin des Programms für sozialen Schutz bei der Nonprofit Organisation Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing (WIEGO). WIEGO unterhält ein globales Netzwerk, das sich in der Forschung und politisch im Interesse von Frauen engagiert, die außerhalb des offiziellen Sektor arbeiten.