Neustart mit Lula?
22.12.2022 I Am 1. Januar tritt die neue brasilianische Regierung unter Präsident Lula ihre Arbeit an. Die Erwartungen sind groß. Repórter Brasil sprach mit Expert_innen darüber, welche Punkte die Regierung zu Priorität machen sollte, um die Rechte von Arbeiter_innen zu stärken.
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil.
Es reicht nicht aus, Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist notwendig, die Informalität zu bekämpfen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Hierfür ist es von grundlegender Bedeutung, die Arbeitsgesetze zu überarbeiten, das Arbeitsministerium zu stärken und den Mindestlohn zu erhöhen. Dies sollten die Prioritäten der Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva sein, sagten verschiedene Expert_innen Repórter Brasil.
"Es ist klar, dass man Arbeitsplätze schaffen muss, aber solche, die ein würdiges Leben ermöglichen. Dieses Ziel hängt nicht nur an der Wirtschaft, sondern auch an der staatlichen Beschäftigungspolitik, den Kontrollorganen sowie den Schutzmaßnahmen", sagt Lais Abramo, ehemalige Direktorin der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Brasilien. Sie ist auch Teil der Übergangsregierung.
Die befragten Expert_innen sind sich über die schwierige Lage des brasilianischen Arbeitsmarktes einig. Obwohl die Arbeitslosigkeit sinkt – nach Angaben des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) von 14,9 Prozent im ersten Quartal 2021 auf 8,3 Prozent Ende Oktober 2022 - spiegelt dieser Trend nicht die Qualität der geschaffenen Arbeitsplätze wider. Aus derselben Erhebung geht hervor, dass die Informalitätsrate im selben Zeitraum 39,1 Prozent der rund 99,7 Millionen Arbeiternehmer_innen erreichte. Im ersten Quartal 2022 lag sie sogar bei einem Rekordwert von 40,2 Prozent.
"In der Praxis bedeutet dies, dass 4 von 10 Arbeitnehmer ungeschützt arbeiten. Wenn der Abbau [von Arbeitnehmerrechten] die 'neue Realität [der Arbeitswelt]' ist, hat das weder das Leben der Arbeitnehmer verbessert, noch zur Verbesserung der Wirtschaft beigetragen, die von der Schaffung von Arbeitsplätzen profitiert", sagt Ivone Silva, Vorsitzende der Gewerkschaft der Bankangestellten von São Paulo und Osasco. Das Statistikinstitut IBGE betrachtet Arbeiternehmer_innen als informell beschäftigt, wenn sie keinen formellen Arbeitsvertrag haben oder Lieferant_innen oder nicht registrierte Hausangestellte sind. Auch Arbeiternehmer_innen, die andere Tätigkeiten ohne Arbeitsrechte ausüben oder Arbeitnehmer_innen, die keine Beiträge zur Sozialversicherung leisten, fallen in diese Kategorie.
Die Zunahme der Informalität ist laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ein globaler Trend. Sie hat sich mit der Corona-Pandemie verschärft und ist für großen Ungleichheiten verantwortlich, wie zum Beispiel das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen oder zwischen Weißen und Schwarzen.
Um diese Situation zu verändern, nannten die befragten Expert_innen fünf Punkte, die die neue brasilianische Regierung zur Priorität machen muss.
1. Anhebung des Mindestlohns
Die Erhöhung des Mindestlohns war eines der wichtigsten Wahlversprechen des designierten Präsidenten Lula. Und dies sollte nach Einschätzung der befragten Expert_innen oberste Priorität haben. Denn das sei nicht nur wichtig, um die Armut zu verringern, sondern auch, um den formellen Arbeitsmarkt attraktiver zu machen. Sie dient auch dazu, die Auswirkungen der zunehmenden sozialen Ungleichheit, die vor allem durch die Inflation verursacht werden, zu korrigieren. Der Mindestlohn liegt derzeit bei umgerechnet rund 220 Euro und wird jährlich an die Inflation angepasst. Zusätzlich soll es einen Zuschlag geben, um die steigenden Lebenshaltungskosten abzufangen. Zu Beginn des Jahres 2022 wurde der Mindestlohn jedoch nur korrigiert, ohne dass die Realeinkommen erhöht wurden.
"Das war ein sehr wichtiger Aspekt der Regierungen von Lula und Dilma, der mit den Gewerkschaften und den Arbeitgebern ausgehandelt wurde und zu einer Mindestlohnerhöhung von mehr als 70 Prozent und folglich zu einer Verringerung der Armut führte. Genau darüber verhandelt die neue Regierung bereits", sagt Abramo.
2. Überarbeitung der Arbeitsrechtsreform
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Überarbeitung der Arbeitsrechtsreform, insbesondere im Hinblick auf Teilzeitbeschäftigte und Klagemöglichkeit für Arbeitnehmer_innen.
Gewerkschaften und Arbeitsrechtsbehörden sind der Ansicht, dass die 2017 von der Regierung Michel Temer durchgeführte Reform der Arbeiterklasse mehr Verluste als die zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung versprochenen Gewinne gebracht hat. "Die Reform war für die Arbeitnehmer sehr einschneidend, wenn man sie mit anderen Bereichen vergleicht. Einige Probleme wurden bereits vom Obersten Gerichtshof korrigiert, wie die Arbeit von schwangeren Frauen“, sagt der Arbeitsrichter Luiz Colussi.
Zu den wichtigsten Punkten, die von der Lula-Regierung angepackt werden sollten, gehören laut Colussi mehr Rechte für Teilzeitbeschäftigte. Ein weiterer wichtiger Punkt ist nach Einschätzung der Expert_innen die Stärkung von Gewerkschaften. "Die Erwartung ist, dass die CUT und andere Gewerkschaftsdachverbände in der neuen Regierung Lula einen festen Platz haben werden, um sich an Debatten über alle Fragen der Arbeitswelt zu beteiligen. Außerdem muss ein Vorschlag zur Finanzierung der Gewerkschaftsorganisationen erarbeitet werden, der die so genannte Gewerkschaftssteuer ersetzt. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass wir dafür eintreten, dass jede Art von Zuschuss (für die Löhne der Beschäftigten) erst nach Diskussion und Genehmigung durch die Arbeitnehmerversammlung erfolgen sollte", sagt Douglas Izzo, Vorsitzender der CUT in São Paulo.
"Hinzu kommt das uneingeschränkte Outsourcing-Gesetz, das ebenfalls unter der Regierung Temer verabschiedet wurde und das Auslagerungen ermöglicht. All diese Maßnahmen destrukturieren den bereits geschwächten Arbeitsmarkt. Dies wiederum verstärkt die Zersplitterung der Gewerkschaftsbasis und damit die Organisation der Arbeitnehmer", fügt Silva von der Bankarbeitergewerkschaft hinzu.
3. Schutz von App-Mitarbeiter_innen
Seit Jahren ist die Beziehung zwischen Lieferant_innen und App-Anbieter_innen Gegenstand von Kontroversen und widersprüchlichen Gerichtsentscheidungen. Zunächst behaupteten die Plattformen nur, Kund_innen und autonome Dienstleister_innen miteinander zu verbinden. Mittlerweile haben einige Plattformen begonnen, Forderungen der Arbeiter_innen umzusetzen.
Nach Ansicht des Vorsitzenden der Vereinigung der App-Arbeiter_innen und Freiberufler_innen Brasiliens (AMABR), Edgar da Silva, ist es wichtig festzuhalten: Wenn Apps "den Lieferant_innen wie in einem Arbeitsverhältnis mit Arbeitsvertrag behandeln", indem sie die Bezahlung einseitig festlegen und die Einhaltung von Mindestarbeitszeiten verlangen, sollten auch entsprechende Vorschriften gelten.
Marcelo Adifa, Vertreter der Fahrervereinigung von Rio de Janeiro (AMA-RJ), sprach sich hingegen gegen die Anerkennung von Arbeitsverhältnissen aus. Er erklärte, dass "eine neue Gesetzgebung die Beziehungen zwischen Anträgen und Fahrern nicht bürokratisieren, sondern den Fahrern Rechte garantieren sollte, die sie heute nicht haben".
Zum Weiterlesen: Brasiliens neue Arbeiterklasse
4. Verstärkung der Kontrollmechanismen
In Brasilien hat nicht nur die Zahl der informell Beschäftigten zugenommen, sondern auch die Zahl der Arbeitskräfte als Ganzes. Das IBGE schätzt, dass Ende Oktober 2022 99,7 Millionen Brasilianer_innen in irgendeiner Form erwerbstätig waren. Die Zahl der Arbeitsinspektor_innen, die für die Bundesregierung tätig sind, hat jedoch nicht mit diesem Wachstum Schritt gehalten.
Die Nationale Vereinigung der Arbeitsinspektor_innen (Sinait) schätzt, dass 40 Prozent der Stellen in diesem Sektor unbesetzt sind, da nicht genügend öffentliche Ausschreibungen durchgeführt werden. Nach Angaben von Sinait gibt es derzeit etwas mehr als 2.000 Mitarbeiter_innen, die die Aufgabe haben, den gesamten brasilianischen Arbeitsmarkt zu kontrollieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt zur Verstärkung der Kontrollen ist die Überarbeitung einiger von der Regierung Jair Bolsonaros auf den Weg gebrachten Verordnungen. Durch einige wurden Strafen abgeschwächt. Ein Beispiel: Im April 2021 versuchte die Regierung, die Vorschriften für Fleischverpackungsbetriebe zu ändern, wodurch der Schutz der Arbeitnehmer_innen in diesem Sektor geschwächt worden wäre.
5. Stärkung des Arbeitsministeriums
Wenn Expert_innen davon sprechen, dass das Arbeitsministerium wieder an Bedeutung gewinnen muss, verweisen sie auf seine Funktion als zentraler Ort für die Erörterung der wichtigsten arbeitsrechtlichen Probleme im Lande. Vor der Regierung Bolsonaro waren im Ministerium Kommissionen zwischen Arbeitnehmer_innen, Arbeitgeber_innen und der Regierung angesiedelt, die die Maßnahmen der Regierung im Bereich der Arbeitswelt abstimmten.
Laut Lais Abramo ist es wichtig, dass das künftige Ministerium solche Beteiligungsräume erneut schafft. „Viele Orte, die die Struktur des Arbeitsministeriums bildeten, wurden (von der Bolsonaro-Regierung, Anm. d. Übersetzers) zerstört oder stark geschwächt."
Darüber hinaus ist eine angemessene finanzielle Ausstattung von grundlegender Bedeutung. Repórter Brasil hat aufgezeigt, dass viele Teams, die mutmaßliche Verstöße untersuchen sollten, nach wiederholten Kürzungen des Budgets keine Mittel mehr hatten, um ihre Arbeit durchzuführen. Der Geldmangel untergrub nicht nur die Inspektion in Fällen von Sklaven- und Kinderarbeit, sondern auch alle Maßnahmen des Ministeriums zur Bekämpfung der Informalität und zur Verhütung von Unfällen und berufsbezogenen Krankheiten.
"Wir wissen, dass eine der Entscheidungen der ersten Jahre von Bolsonaro – und es besteht Einigkeit darüber, dass dies negative Auswirkungen hatte – darin bestand, das Arbeitsministerium abzuschaffen und es zu einem Sekretariat des Wirtschaftsministeriums zu machen. Das bedeutete nicht nur den Verlust von Personal und Mitteln. Es zeigt auch, dass die Arbeit einer finanziellen Idee untergeordnet werden soll", so Abramo.
Von Guilherme Zocchio
Übersetzung/Redaktion Dezember 2022: Niklas Franzen
Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Eingeschobene Absätze sind von der Redaktion erstellt. Der Originaltext erschien am 07.12.2022.
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