
6.000 Ortskräfte brauchen Hilfe

Kommentar von Alexander Fröhlich, Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V.
Tausende Ortskräfte haben für deutsche Regierungsorganisationen in Afghanistan gedolmetscht, geputzt, gekocht, gekellnert, bewacht, gebaut, geplant, verwaltet, gelehrt und erklärt. Sie haben den Aufbau eines demokratischen Staates aktiv unterstützt und gerieten dadurch ins Visier terroristischer Gruppen.
Rückblickend drängt sich der beschämende Eindruck auf, dass die schwarz-rote Bundesregierung vorhatte, fast alle ehemaligen Ortskräfte und ihre Familienangehörigen in Afghanistan zurückzulassen. Anders lässt es sich wohl nicht erklären, dass es keine funktionierenden, transparenten, zugänglichen, ressortübergreifend einheitlichen, rechtzeitig installierten Verfahren für die Beantragung von Aufnahmezusagen, deutschen Visa und Reisekostenübernahmen gab.
Da wundert es kaum, dass der deutsche Afghanistan-Einsatz mit chaotisch ablaufenden Evakuierungsflügen endete. Nur wenige hundert Ortskräfte schafften es in einen dieser Flüge.
Die überwiegende Mehrheit der Ortskräfte und ihrer Familienangehörigen – nach unseren auf Zahlen der Bundesregierung basierenden Schätzungen insgesamt circa 6.000 Menschen – ist noch immer in Afghanistan und damit in akuter Gefahr, von den Taliban aufgespürt, gefoltert, ermordet oder versklavt zu werden.
Etwa 4.000 davon haben nach den aktuellen Regeln der Bundesregierung keinen Anspruch auf Aufnahme. Weil das Arbeitsverhältnis der Ortskraftmama vor 2013 endete oder der Ortskraftpapa nicht direkt bei einer deutschen Regierungsorganisation, sondern bei einem Subunternehmen beschäftigt war, das Leistungen für eine deutsche Regierungsorganisation erbrachte.
Wie die Bundesregierung zu der wirklichkeitsfremden Einschätzung gelangte, diese Menschen seien nicht gefährdet und benötigten somit keinen Schutz durch Aufnahme, bleibt ihr Geheimnis.
Die Taliban haben ein sehr gutes Gedächtnis und interessieren sich nicht für rechtliche Details. Ihnen gilt jeder, der für die „ungläubigen Ausländer“ gearbeitet hat, als Verräter und Spion, an dem Rache zu nehmen ist. Durch die von ihnen praktizierte Sippenhaft sind auch die Familienangehörigen der Ortskräfte bedroht.
Wir stehen mit vielen noch in Afghanistan befindlichen Ortskräften in Kontakt. Nur wenigen wurde bisher eine Aufnahmezusage per E-Mail zugeschickt. Sie sitzen in Todesangst in ihren Verstecken und haben häufig kaum noch Geld, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Viele wandten sich bereits im August mit Hilferuf-Emails an ihre ehemaligen Arbeitgeber. Sie wurden bisher entweder gar nicht kontaktiert oder werden mit unregelmäßigen, unverbindlichen, teils verwirrenden Anrufen hingehalten.
Wir fordern, dass ausnahmslos alle dieser etwa 6.000 noch in Afghanistan befindlichen Ortskräfte und deren Kernfamilienangehörige (einschließlich der haushaltsangehörigen unverheirateten volljährigen Kinder) sofort eine Aufnahmezusage bekommen. Zudem muss die Bundesregierung die Kosten ihrer Pässe und Visa sowie ihrer Bus- und Flugtickets übernehmen.
Diese Kosten betragen bei einer sechs- bis achtköpfigen Familie mehrere tausend Euro. Viele Ortskräfte verschulden sich, um ihre rettende Reise nach Deutschland zu finanzieren. Deshalb muss es auch die Möglichkeit geben, dass eingereiste Ortskräfte diese Kosten nachträglich von der Bundesregierung erstattet bekommen. Beispielsweise in Form einer pro eingereistem Familienmitglied gezahlten, angemessenen Pauschale.
Am einfachsten und zielführendsten wäre es aber, wenn die Bundeswehr alle noch in Afghanistan befindlichen Ortskräfte aus Masar-e Scharif und Kabul mit Großraumflugzeugen nach Taschkent oder Doha ausflöge.
Ferner muss jetzt endlich allen in Deutschland lebenden Ortskräften eine realistische Integrationsperspektive angeboten werden. Es darf nicht länger so sein, dass sie sich von einer zwölfmonatigen Aufenthaltserlaubnis zur nächsten hangeln müssen. Das macht Angst und erschwert es, einen Arbeitsplatz oder eine Mietwohnung zu finden.
Auch in einer weiteren Hinsicht muss sich einiges ändern. Die Beschäftigungsverhältnisse der Ortskräfte in Afghanistan waren äußerst prekär. Einen Kündigungsschutz gab es nicht. Sie mussten arbeiten, wann immer und so lange, wie es ihr deutscher Arbeitgeber wollte. Stellte eine Ortskraft eine Gefährdungsanzeige, wurde sie sehr häufig gekündigt, aus Sicherheitsgründen. Trotzdem wurde die Gefährdungsanzeige anschließend fast immer abgelehnt.
Diese arbeitnehmerfeindlichen Missstände würden erst durch eine noch zu gründende, internationale gewerkschaftliche Organisation aller Ortskräfte bei deutschen Bundeswehreinsätzen, etwa jenem in Mali, abgestellt werden können.
Entnommen aus Forum Migration Dezember 2021