
Amazon: Übermüdet auf der „Letzten Meile”
Die Zustell- und Logistikbranche gehört zu den Bereichen, in denen besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten – teils bei Konzernen wie Amazon direkt, teils ausgelagert an Subunternehmen. Einen Tarifvertrag verweigert Amazon beharrlich. In neun Versandzentren hat ver.di deshalb zur Arbeitsniederlegung aufgerufen. Zuvor hatten die Beratungsstelle Faire Integration, das Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit und andere einen Aktionstag zu Amazon gemacht.
„Ich bin 33, aber mein Körper fühlt sich an wie 90“ – so schilderte ein Amazon-Mitarbeiter in Berlin-Mariendorf bei dem Aktionstag am 7. Oktober 2022, dem Welttag für menschenwürdige Arbeit, seine alltägliche Belastung. An diesem Tag hatten die Gewerkschafter_innen bei Amazon über den neuen Mindestlohn informiert (siehe Kasten). Dabei sprachen sie mit eingewanderten, geflüchteten und mobilen Beschäftigten, die als Rider oder Fahrer_innen jeden Tag Pakete und Einkäufe an tausende Berliner_innen ausliefern. „Es kommt manchmal vor, dass sie uns Geld vom Gehalt abziehen, wenn es einen Unfall gab“, sagte ein Amazon-Fahrer. „Ich bekomme 10,80 Euro die Stunde“, so ein weiterer Kurierfahrer. Aus ihrer Arbeit wissen die Berater_innen, dass Mindestlohn-Unterschreitungen keine Einzelfälle sind. Auch die Gespräche am Aktionstag machten klar, dass vor allem bei Subunternehmen unbezahlte Überstunden ein Problem sind.
Amazon stellt seit 2019 auch in Deutschland die eigenen Pakete selbst zu – und ist damit nicht mehr auf herkömmliche Paketlieferdienste angewiesen. Die Redaktion des ver.di-Blogs „wir-sind-ver.di“ hat zu den Bedingungen auf der so genannten „Letzten Meile“ ein Interview mit Berater Mousa Othman geführt. Er arbeitet bei der DGB Beratungsstelle Faire Integration und berät Fahrer_innen, die Amazon-Bestellungen ausliefern. „Amazon weitet in Deutschland seit ungefähr 2019 sein Geschäftsmodell aus”, sagt Othman – auf die Zulieferung der Amazon-Bestellungen bis an die Haustür, die „Letzte Meile“. Die „Letzte Meile“ gilt als besonders kostenintensiv. Doch seitdem wurden allein in NRW zwanzig Verteilzentren errichtet. An diesen Orten holen die Fahrer_innen die Pakete für ihre jeweiligen Touren ab. „Amazon beauftragt für die ‚Letzte Meile‘ grundsätzlich Subunternehmen”, sagt Othman. Diese Subunternehmen haben entweder eigene Fahrzeuge oder sie mieten welche an. Die Bedingungen für die Fahrer_innen bei den Subunternehmen seien dabei äußerst schlecht: „Die Touren sind viel zu lang für einen 8-Stunden-Tag, aber um Sperren zu vermeiden, fahren die Kolleg_innen so lange, bis alle Pakete ausgeliefert sind, teilweise bis 22 Uhr”, so Othman. „Wegen der vielen Pakete machen viele Fahrer_innen zu wenig Pausen und sind völlig übermüdet. Und so kommt es auch zu Verkehrsübertretungen wie Falschparken oder Tempoüberschreitungen, was wiederum zu Sperren führt – ein Teufelskreis!“
Hinzukommt: Amazon verweigert einen Tarifvertrag, der Sicherheit für die Beschäftigten bedeuten würde. Stattdessen, so zeigen es ver.di-Recherchen, werden die Löhne willkürlich und nach Gutsherrenart erhöht. Die einen bekommen etwas, andere gehen leer aus, je nach Standort. Im Arbeitskampf um die tarifvertragliche Absicherung hat ver.di deshalb im Oktober erneut die Beschäftigten in neun Versandzentren des Handelskonzerns zu Arbeitsniederlegungen aufgerufen. Aktueller Anlass für die Streiks waren die von Amazon für den 11. und 12. Oktober angekündigten „Prime Exklusiven Angebote“, eine Fortsetzung der im Juli veranstalteten „Prime Days“. Das Shopping-Event soll in 15 Ländern Asiens, Europas und Nordamerikas stattfinden. Während es für die Kunden Rabattaktionen gibt, spart Amazon bei den Beschäftigten.
„Offenbar befürchtet der Konzern, dass Inflation und Unsicherheit seine Umsätze gefährden könnten. Darauf mit besonderen Rabattaktionen zu reagieren, ist legitim“, erklärt dazu Monika Di Silvestre, die für ver.di die Streiks bei Amazon koordiniert. „Nicht legitim ist aber, dass Amazon zugleich bei den eigenen Beschäftigten spart und sich nach wie vor weigert, ihnen durch tarifvertraglich abgesicherte Einkommen und Arbeitsbedingungen eine sichere Perspektive zu bieten.“ Gestreikt wurde in den „Fulfillment Centern“ Bad Hersfeld (zwei Standorte), Dortmund, Graben, Koblenz, Leipzig, Rheinberg, Werne und Winsen (Luhe). Im September hatte Amazon angekündigt, die Einkommen der Beschäftigten einseitig zu erhöhen. Die Lohnanpassungen blieben aber deutlich unter der aktuellen Inflationsrate. „Für besonderen Unmut sorgte bei den Kolleginnen und Kollegen, dass die Gehaltssteigerungen an den verschiedenen Standorten unterschiedlich hoch waren, sie lagen zwischen drei und über sieben Prozent. Gleichzeitig hat Amazon den Preis für eine Prime-Mitgliedschaft um über 30 Prozent erhöht. Das passt nicht zusammen!“, so Di Silvestre.
Ausführliches ver.di-Interview zu den Arbeitsbedingungen
Mindestens 12 Euro ab dem 1. Oktober – Gesammelte Infos auf der Webseite des DGB
Der gesetzliche Mindestlohn beträgt seit dem 1. Oktober 2022 pro Stunde 12 Euro. Angesichts der steigenden Preise für Energie und Lebensmittel fordert der DGB weitere Entlastungen. Doch was bedeutet die Erhöhung für Arbeitnehmer_innen konkret? Wann wird er wieder erhöht? Und welche Ausnahmen gelten beim Mindestlohn in 2022? Der DGB hat die wichtigsten Fragen und Antworten dazu auf seiner Webseite zusammengestellt:
Entnommen aus Forum Migration November 2022