Das "Paketboten-Schutz-Gesetz" ist da. Jetzt wird alles gut. Oder?

Kommentar von Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Hochschule Koblenz
Die Botschaft des „Gesetzes zur Einführung einer Nachunternehmerhaftung in der Kurier-, Express- und Paketbranche zum Schutz der Beschäftigten“, öffentlich besser bekannt als Paketboten-Schutz-Gesetz, ist klar. Endlich werden die schwächsten Glieder des Lieferwesens unter den Schutz des Staates genommen: die Tag für Tag mit einem immer beschwerlicher werdenden Verkehrschaos in den Straßen, nicht anwesenden Kunden und uneinlösbaren Mengen- und Zeitvorgaben kämpfenden Paketzusteller. Jeder kennt diese teils nur noch zu bedauernden Menschen. Sie sind die einzigen lebenden Menschen, die man nach dem online getätigten Kauf zu Gesicht bekommt – wenn man denn zufällig da ist, wenn der Paketbote klingelt. Und die haben wahrlich viel zu tun. Allein in diesem Jahr wird mit etwa 3,7 Milliarden ausgelieferten Paketen in Deutschland gerechnet. Wir sprechen von einer Branche, in der mehr als 200.000 Beschäftigte unterwegs sind. Und unter diesen sind viele Menschen mit Migrationshintergrund.
Der „Ausbeutung einen Riegel vorschieben“, so hat das zuständige Bundesarbeitsministerium seine Pressemitteilung zu dem neuen Gesetz überschrieben. Und wie will man das erreichen? „Ziel ist, die Nachunternehmerhaftung, die bereits seit Jahren in der Fleischwirtschaft und am Bau wirkt, auf die Paketbranche auszuweiten. Die Neuregelung soll künftig die korrekte Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge sicherstellen.“
Da wird der eine oder die andere hellhörig: Die Nachunternehmerhaftung wie sie seit 2002 auf dem Bau oder seit 2017 in der Fleischindustrie „wirkt“? Wirklich?
Beispiel Schlachthöfe: Die nötigen Kontrollen haben mit dem neuen Gesetz nicht etwa stark zu-, sondern sogar rapide abgenommen. Den Daten des Bundeslandwirtschaftsministeriums zufolge führte die zuständige „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ 2017 bundesweit nur noch 233 Kontrollen in der Fleischwirtschaft durch. 2015 waren es noch 445. „Es ist nicht akzeptabel, dass die Kontrollen um 50 Prozent zurückgegangen sind, obwohl die schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Fleischbranche bekannt sind“, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete und Arbeitsmarktpolitikerin Beate Müller-Gemmeke. „Damit läuft auch das Gesetz, das extra für diese schwierige Branche gemacht wurde, ins Leere.“
Eine gesetzliche Vorschrift führt bekanntlich nicht annähernd automatisch dazu, dass sie auch eingehalten wird. Gerade in einem Bereich wie den Paketdiensten mit den dort vorherrschenden Rahmenbedingungen wird sie nur dann eine Wirkung entfalten können, wenn die Einhaltung der Bestimmungen
a) umfassend kontrolliert und b) damit verbunden eine die Unternehmen – sowohl die Auftraggeber wie die Subunternehmen – empfindlich treffende Sanktionierung erfolgt. Und diese muss eine möglichst starke abschreckende Wirkung entfalten.
Und wenn a) oder b) – oder noch schlimmer, aber realistischer a) und b) – nicht erfüllt sind oder werden können, dann nützt jedes noch so schöne Gesetz nichts oder nur punktuell. Man muss ein Gesetz und seine Regeln nicht nur von der Absicht, sondern auch vom Ende her denken. Ansonsten bleibt man auf der Ebene der Symbolpolitik stecken.
Außerdem sind in dem neuen Schutzgesetz zwei scheunentorgroße Ausweichmöglichkeiten für die Auftraggeber eingebaut worden:
a) „Unbedenklichkeitsbescheinigungen beispielsweise von den Krankenkassen oder der Berufsgenossenschaft weisen Subunternehmen als zuverlässig aus und entlasten die Auftraggeber von der Haftung.“
b) Mittels unabhängiger Eignungsprüfung können Subunternehmen ebenfalls ihre Auftraggeber von der Haftung befreien.
Der Generalunternehmer kann sich also entlasten. Was werden wohl die an der Spitze der Pyramide stehenden Unternehmen wie GLS oder Hermes machen? Die Gefahr, dass sich ein Teil der Unternehmen aus der an sich mit der Nachunternehmerhaftung beabsichtigten Verantwortungsübernahme wieder freikaufen kann ist groß.
Bei einer Anhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages im Oktober mahnten Experten eine Veränderung der gesetzlichen Verpflichtung zur Dokumentation der Arbeitszeit an. Künftig sollte in der Branche der Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie das Ende und die Gesamtdauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung aufgezeichnet werden. Man ahnt es schon: Das wurde nicht aufgenommen. Die „Tracking“-Branche par excellence sieht sich technisch überfordert, das zu realisieren. Ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, das ebenfalls gefordert wurde? Fehlanzeige.
Fazit: Es gibt keinen Grund, über dieses von vornherein amputierte Gesetz zu jubeln. Ich hätte mir hier deutlicheres Engagement der Gewerkschaften gewünscht, einen Durchbruch kann ich nicht ausmachen.
Aus Forum Migration Dezember 2019