
Den sozialen Schutz organisieren

Kommentar von Arnd Spahn, Sekretär der Europäischen Landarbeitergewerkschaften (EFFAT)
Seit über 100 Jahren kommen Saisonarbeiter_innen aus Polen nach Deutschland, um in der Landwirtschaft als Erntehelfer_innen zu arbeiten und Einkommen für sich und ihre Familien zu erwirtschaften. Diese Art der Migration ist nicht neu, sondern hat eine lange Geschichte. Heute findet solche Arbeit in ganz Europa statt.
Gewerkschaften haben sich immer für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Wander- und Saisonarbeiter eingesetzt, doch erst die Corona-Pandemie hat den Blick der Politik auf diese besonders benachteiligte Gruppe von Arbeitnehmer_innen gelenkt: Ohne sie kann die Versorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse auch 2021 nicht gesichert werden. Saisonarbeiter_innen leisten also wichtige Beiträge zum wirtschaftlichen Erfolg der Lebensmittelwirtschaft in Europa.
An der teils katastrophalen Lage der Saisonarbeiter_innen hat sich in Europa allerdings nur wenig geändert. Uns allen sind die Bilder der illegalen Beschäftigten in Spanien oder Italien bekannt. Doch auch in Deutschland werden die Standards für menschenwürdige Beschäftigung oft nicht eingehalten.
Viele der Wanderarbeiter_innen sind nicht organisiert. Sie kennen ihre Rechte nicht und sind oft Opfer von Ausbeutung. Gewerkschaften in ganz Europa sind deshalb aktiv. Sie setzen sich ein für faire Arbeitsbedingungen und informieren und beraten die Wander- und Saisonarbeiter_innen. Koordiniert werden diese Aktivitäten über die Europäische Föderation der Lebensmittel-, Landwirtschafts- und Tourismusgewerkschaften (EFFAT). Sie fordern europaweite Standards für Information und Beratung, neue Aktivitäten der Mitgliedstaaten, besseren Schutz und Integration der Wanderarbeiter_innen.
Der Einsatz lohnt sich. Die Europäischen Institutionen haben reagiert. Das Europäische Parlament unterstützt gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen der Saisonarbeiter_innen und der Europäische Rat hat ein umfangreiches Programm zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter_innen und anderer mobiler Arbeitnehmer_innen beschlossen. Auch die Förderung gewerkschaftlicher Projekte sind darin enthalten.
Die neu gegründete Europäische Arbeitsbehörde (ELA) fordert auf Druck der Gewerkschaften die Mitgliedstaaten auf, an einer europaweiten Kampagne für Saisonarbeiter_innen und ihre Arbeitgeber_innen teilzunehmen. Gemeinsam mit den Sozialpartnern werden die zuständigen Stellen in den Mitgliedsländern Informations- und Sensibilisierungskampagnen durchführen.
Unsere Ziele sind klar: wir brauchen eine umfassende Integration der Wanderarbeiter_innen in den ländlichen Räumen. Sie sollen nicht nur kurzfristige Erntetätigkeiten durchführen, sondern die Entvölkerung der Weiler und Dörfer stoppen und den Facharbeitermangel reduzieren. Deshalb brauchen sie Zugang zu Sprachkursen, beruflicher Bildung und langfristigen Perspektiven. Erfahrungen, die hier in der Arbeit gesammelt werden, können wichtige Grundlagen für neue wirtschaftliche Aktivitäten in den Herkunftsländern legen.
Immer noch werden Wanderarbeiter_innen in den Sozialversicherungssystemen benachteiligt. So sind sie nicht überall gesetzlich krankenversichert und leiden besonders unter den Folgen der Corona-Pandemie. Hier brauchen wir schnell Lösungen und neue gesetzliche Grundlagen. Gerade in Deutschland wurden Arbeitsschutzkonzepte entwickelt, die sie besser schützen, wenn sie in den Betrieben respektiert werden. Doch viele Arbeitgeber_innen achten nicht auf die Vorschriften und missachten die Hinweise der Berufsgenossenschaft.
Besonders menschenunwürdig ist immer noch die Unterbringung der Wanderarbeiter_innen. Diese ist eine konkrete Gefahrenquelle in Corona-Zeiten. Trotz klarer Vorschriften sind kaum Kontrollen vorhanden. Hier brauchen die Arbeitnehmer_innen deutliche Unterstützung durch Institutionen und Gewerkschaften.
Das Internet hat neue Kanäle für Arbeitsvermittlungen geschaffen. Viele basieren auf sichtbarer Ausbeutung. Menschenhändlern wird die Arbeit leicht gemacht. Deshalb brauchen wir gesetzliche Mindeststandards für Einrichtungen der Arbeitsvermittlung und klare Regeln, wer welche Kosten für An- und Abreise und Vermittlungen zu tragen hat. Gerade die Arbeitgeber_innen sind hier gefordert, Transparenz und Sicherheit zu schaffen.
Wenn wir Wander- und Saisonarbeiter_innen ihren Leistungen entsprechend behandeln, ihnen Perspektiven für eine umfassende betriebliche und soziale Integration geben und Missbrauch und Ausbeutung verhindern, werden wir viele Probleme der Gesellschaften in den Herkunfts- und Zielländern lösen können. Gewerkschaften sind dabei wichtigste Partner. Und sie sind dann auch Heimat für diese wichtigen Arbeitnehmer_innen.
Wenn wir Spargel und Äpfel essen und Wein und Bier trinken, sollten wir wissen, dass dies ohne die hunderttausenden von Saisonarbeiter_innen nicht möglich wäre. Als Konsument_innen profitieren wir alle davon. Auch deshalb sollten wir sie wertschätzen.
Entnommen aus Forum Migration Juni 2021