Die Veränderung beginnt im Kopf. Kommentar von Ali Can

Als zehntausende Deutsche mit Migrationshintergrund im Juli 2018 mit #MeTwo persönliche, unterschiedliche Erfahrungen mit Diskriminierung geteilt haben, hat sich ein Teil der Deutschen ohne Migrationshintergrund verständnislos gezeigt. Sie haben gefragt „Warum jammern die denn, wir sind doch nicht rassistisch.“
Das Anliegen hinter #MeTwo lässt sich gut an der Frage „Woher kommen Sie?“ erläutern. Hunderte Menschen mit Migrationsgeschichte haben diese bei #MeTwo kritisiert. Sie werden jetzt vielleicht verdutzt fragen, was an der Frage so problematisch sein soll. Eigentlich ist es doch eine nette Geste, jemanden nach seiner Herkunft zu fragen.
Oft werde ich das zu Beginn eines Gespräches gefragt. Meine Antwortet lautet meistens „vom Bahnhof“, „vom Bäcker“ oder „aus dem Ruhrgebiet, Essen“. Manche wollen sich nicht begnügen und konkretisieren dann ihre Frage: „Woher kommen Sie wirklich? Was für ein Landsmann sind Sie?“ – „Ach, das meinen Sie“, sage ich dann.
Wir, die von institutioneller Diskriminierung Betroffenen, verlangen einen sensibleren Umgang miteinander. Der fängt bei der Sprache eines Menschen an. „Ich interessiere mich für ihre Migrationsgeschichte“, sagt da schon mehr aus als die anfängliche Frage. Aber auch wenn oft Neugier oder eine positive Absicht hinter der scheinbar banalen Frage „Woher kommst du?“ stecken, heißt das nicht, dass sie nicht unglücklich formuliert sein und dadurch ausgrenzend wirken kann.
Ich glaube denen, die sagen, dass sie fragen, weil sie Interesse signalisieren möchten. Doch so einfach ist die Situation nicht. Der Kontext spielt eine große Rolle. Weshalb und womit liest jemand mir meine Migrationsgeschichte ab und weshalb wird das, wie so oft zu Beginn eines Gespräches thematisiert? Ich möchte beispielsweise mit meinem Charakter, meiner Persönlichkeit, meinen Taten oder meiner Leistung erfahren werden. Fragen wie „Woher kommst du?“ aber rassifizieren, wenn der passende Kontext fehlt. Die Frage ordnet dann den Gefragten einer scheinbar abzugrenzenden Gruppe zu. Wir wehren uns dagegen vor allem deshalb, weil solche Zuschreibungen sich auf die Integration negativ auswirken. Ich will mich nicht als fremd, anders oder nicht-deutsch identifizieren lassen, wenn der Kontext es nicht erfordert.
Wäre ich ein Mensch mit Fluchthintergrund, der sich seit sieben Monaten in Deutschland aufhält und in einem Kennenlern-Café mit engagierten Ehrenamtlichen „Woher kommen Sie?“ gefragt wird, hat die Frage einen Kontext, der sie verständlich einbettet. Aber diese Frage auf der Arbeit, in der Universität, Arztpraxis oder im Alltag zu Beginn des Kennenlernens zu stellen, stellt das „Andere“ oft heraus und offenbart dann noch meist das veraltete Verständnis davon, wer alles zur „normalen deutschen Gesellschaft gehört“ und wer nicht.
Viele fragen mich, wo ich herkomme, weil sie es – meist unterbewusst – nicht für normal halten, dass ich genauso als Deutscher gelte, wie ein Mensch, der blonde Haare hat, Gerhard oder Susanne heißt. Wollen wir nicht das Deutsch-Sein endlich neu definieren? Wir sagen mit #MeTwo, dass wir deutsch sind – und eben auch etwas anderes. Der Hashtag #MeTwo steht für „Ich bin zwei“, also ich habe zwei Seelen in meiner Brust. Trotzdem sind wir eben immer Deutsche, nicht nur, „wenn wir gewinnen“, wie es Mesut Özil treffend ausgedrückt hat. Wir sind es auch nicht nur, wenn wir nützlich sind oder deutsche Traditionen übernehmen, sondern auch, wenn wir mal Fehler machen.
Manche Menschen mit Migrationsgeschichte stellen sich mit „Ich komme aus Türkei/Syrien/Irak/Russland“ vor und begreifen sich selbst nicht als Deutsche mit Migrationshintergrund. Manche sehen sich nicht als „richtige Deutsche“, weil sie hören, dass es Begriffe wie „Bio-Deutscher“ gibt – und ja, ich habe mich deshalb auch schon gefragt, warum ich nicht Bio bin und aufgrund meines Migrationshintergrundes scheinbar Pestizide nötig hätte – die Macht der Sprache.
#MeTwo fordert einen Umgang, der die Gleichheit von Deutschen, deren Familien seit Generationen in Mitteleuropa leben und solchen, die in den letzten Jahrzehnten aus anderen Gegenden der Erde eingewandert sind, zum Ausdruck bringt. Wir wollen nicht „nicht-bio-deutsch“ sein. Denn das impliziert den Status eines minderwertigen, „unechten“ Deutschseins.
Die meisten Tweets bei #MeTwo haben bestätigt, was viele Studien längst gezeigt hatten: Als jemand, der Ali heißt, habe ich weniger Chancen bei gleicher Leistung – sei es bei Bewerbungen auf dem Wohnungsmarkt oder anderswo. Diese gruppenbezogene, ungleiche Behandlung muss aufhören. Solange Menschen mit Migrationsgeschichte prinzipiell schlechtere Chancen haben, kommen wir als Gesellschaft nicht voran. Wir haben mit #MeTwo bewusst keine bestimmte, institutionelle Maßnahme oder organisationale Veränderung gefordert. Denn ich glaube, die Veränderung beginnt im Kopf.
Ali Can, 25, ist ein deutsch-türkischer Aktivist. 2017 gründete er die „Hotline für besorgte Bürger“ (https://ali-can.de/), 2018 startete er die Twitter-Kampagne „#MeTwo“ (siehe Forum Migration 9/2018).
Aus: Forum Migration Dezember 2018