
Drastisch verschobener Fokus

Kommentar von Dr. Marcus Engler, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), Berlin
Eine migrationspolitische Bilanz der vergangenen Legislaturperiode.
Selten in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich die gesellschaftliche und politische Themenlage innerhalb kurzer Zeit so drastisch verschoben wie in den vergangenen beiden Legislaturperioden. Das zeigt der Blick auf das „Politbarometer“: In dieser repräsentativen Umfrage, die im Auftrag des ZDF durchgeführt wird, können die Befragten die aus ihrer Sicht wichtigsten Probleme in Deutschland nennen.
Spätestens seit 2015 dominiert demnach das Thema „Ausländer/Integration/Flüchtlinge“. Grund dafür war der Zuzug von Asylsuchenden, deren Zahl in dieser Zeit einen historischen Höchststand erreichte. Geprägt waren diese Jahre aber auch vom Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in die Parlamente sowie von einem gesetzgeberischen Hyperaktivismus mit dem Ziel, unerwünschte Migration zu verringern. Seit 2016 kommen wieder viel weniger Asylsuchende nach Deutschland. Die Gründe dafür sind vielfältig. Dadurch verlor auch das Thema an Bedeutung.
Nur zwei Mal wurde der Abwärtstrend des Migrationsthemas in den Meinungsumfragen unterbrochen: Das erste Mal im Sommer 2018, als die CSU unter Parteichef Horst Seehofer das Thema im bayrischen Landtagswahlkampf bewusst hochspielte, um der AfD das Wasser abzugraben. Schon bei den Koalitionsverhandlungen hatte die CSU auf eine jährliche Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen gedrängt. Nun wollte die Partei bestimmte Gruppen von Geflüchteten schon an den deutschen Außengrenzen zurückweisen: Beides ist mit dem europäischen und internationalen Recht nicht vereinbar. Doch von Seehofers Versuch, Migration zur „Mutter aller Probleme“ zu erklären, profitierte nur die AfD: Nie hatte sie bessere Umfragewerte als im Sommer 2018, auch bei der Bayernwahl schnitt sie gut ab. Seit ihrem Wahldebakel in Bayern hat die CSU ihren Ton deutlich gedämpft. Auch aus diesem Grund spielt das Thema seither und auch im aktuellen Wahlkampf kaum noch eine Rolle. Nur ein weiteres Mal wurde der Abwärtstrend des Themas unterbrochen: Im September 2020, als auf der griechischen Insel Lesbos das Flüchtlingslager Moria brannte. Der Brand warf ein Schlaglicht auf die unmenschlichen Umstände in den Lagern für Geflüchtete in Griechenland. Unter dem Druck der öffentlichen Empörung stimmte die Bundesregierung zu, eine niedrige, viertstellige Zahl von Menschen aus Griechenland aufzunehmen – angesichts des Bedarfs und vorhandener Aufnahmekapazitäten viel zu wenig, aber immer noch mehr als andere EU-Staaten. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass sich das internationale Umfeld in den zurückliegenden Jahren verändert hat. Viele Staaten, in Europa und weltweit, setzen auf Abschottung und die Abwehr von Geflüchteten. Vor diesem Hintergrund muss man der Bundesregierung zugutehalten, dass Deutschland beim Flüchtlingsschutz weiterhin einer der wichtigsten Geldgeber weltweit ist und sich in der Migrations- und Flüchtlingspolitik für Dialog und internationale Kooperation einsetzt. Zu Hause knüpft sie die Aufnahme von Flüchtlingen aber gerne an eine „Europäische Lösung“, die aber nie zu Stande kommt.
In der Diskussion um Moria kumulierte ein gesellschaftlicher Konflikt, der schon seit geraumer Zeit schwelt: Auf der einen Seite stehen jene, die immer wieder unterstreichen, dass sich „2015 nicht wiederholen dürfe“, wie der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet auch nach der Eskalation in Afghanistan Mitte August betonte. Sie sind dafür sogar bereit, die inzwischen offen völkerrechtswidrigen Zurückweisungen von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen mitzutragen. Auf der anderen Seite stehen jene, die weiterhin darauf bestehen, dass Deutschland und Europa die Pflicht haben, Schutzsuchende aufzunehmen und das Völkerrecht zu achten.
Die Arbeitsmigration, also die Zuwanderung von Fachkräften steht traditionell viel weniger im Fokus öffentlicher Debatten als die Fluchtmigration. Auf diesem Gebiet hat die Bundesregierung, von einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, mit dem „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ 2019 einen weiteren Schritt in Richtung Liberalisierung unternommen. Mit dem Gesetz werden die Hürden für die Einwanderung nicht-akademisch ausgebildeter Fachkräfte gesenkt. Noch ist es zu früh, um zu bewerten, wie sich das neue Gesetz ausgewirkt hat. Es trat erst im Frühjahr 2020 in Kraft, fast zeitgleich mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Symptomatisch ist aber, dass das liberale „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ im Sommer 2019 als Teil eines so genannten „Migrationspakets“ beschlossen wurde, mit dem zugleich die Regeln für die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern verschärft wurden („Geordnete-Rückkehr-Gesetz“). Diese Kombination zeigt die Grundlogik der Migrationspolitik der Bundesregierung sehr deutlich: Die Einwanderung von Fachkräften, die der deutschen Wirtschaft nützen, soll erleichtert werden, die humanitäre Aufnahme von Geflüchteten dagegen begrenzt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die beiden Koalitionspartner nur in Nuancen.
Entnommen aus Forum Migration September 2021