Ein Blick aus den USA: Migration – Bidens große Aufgabe und Chance

Kommentar von Adam Hunter, Exekutivdirektor des Refugee Council USA, Washington, DC
Die Präsidentschaft von Donald Trump wird als ein Tiefpunkt der amerikanischen Führung in Erinnerung bleiben. Das gilt auch für die Bereiche Flucht und Migration. Auf seine Anweisung hin verbannten die USA Menschen aus einigen mehrheitlich muslimischen und afrikanischen Ländern. Sie errichteten physische Mauern an der Grenze und hohe Hürden für die Einwanderung in der Verwaltung. Sie schränkten die Neuansiedlung von Flüchtlingen stark ein und entkernten das Asylsystem.
Trumps Politik wird wegen ihrer Grausamkeit in Erinnerung bleiben. Ein Symbol dafür ist die „Null-Toleranz“-Politik, mit der asylsuchende Eltern von ihren Kindern getrennt wurden. Auch wenn diese Regelung offiziell 2018 aufgehoben wurde, hat sie bis heute Folgen: Mehr als 650 Kinder in den USA sind heute noch von ihren Eltern getrennt, die vor langer Zeit ohne sie abgeschoben wurden. Es ist ein Schandfleck für Amerika, auf Jahre hinaus.
Auf der internationalen Bühne versuchte die Trump-Administration einen Alleingang. Sie löste sich von globalen Vereinbarungen und Kooperationen. Stattdessen errichtete sie Barrieren und versuchte, Migranten und Asylsuchende südlich der Grenze aufzuhalten und an Orte außerhalb der USA zu lenken – etwa indem sie Menschen dazu zwang, in Mexiko zu bleiben, während diese auf Anhörungen warteten. Sie änderte die Regeln und reduzierte die Gründe, aus denen ein Asylantrag gestellt werden kann. Menschen, die Mexiko passierten, um in den USA Asyl zu beantragen, dürfen keinen Antrag mehr stellen und werden kurzerhand nach Mittelamerika zurückgeschickt, um dort Schutz zu suchen.
Diese Politik ist eine Tragödie, nicht nur wegen des erheblichen Schadens, den sie bereits gefährdeten Menschen zufügt. Sie ist auch schlecht, weil sie die gemeinsamen Herausforderungen verleugnet. Sie verkennt den transnationalen Charakter der politischen Versäumnisse, die die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen: Gewalt und bewaffnete Konflikte, endemische Armut und wirtschaftliche Unsicherheit sowie Klimawandel. Sie ignoriert, welche Auswirkungen diese Faktoren auf die Migration haben. Doch angesichts von 80 Millionen Vertriebenen auf der ganzen Welt kann kein Land im Alleingang handeln.
Eine neue Biden-Administration wird ihr Amt mit dem wahrscheinlich umfassendsten und ehrgeizigsten einwanderungspolitischen Programm aller bisherigen Präsidenten antreten. Ihr Plan enthält Vorschläge zur Behebung der Schäden, die Trump angerichtet hat, und zur Rückeroberung der amerikanischen Werte, zur Modernisierung des Einwanderungssystems, zur Aufnahme von Einwanderern in den Gemeinden, zur Bekräftigung unseres Engagements für Asylsuchende und Flüchtlinge, zur Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration und zur Durchführung einer wirksamen Grenzüberwachung. Darüber hinaus beabsichtigen sie, mit einer umfassenden Strategie und mit Investitionen ein robustes Bekenntnis zur Führung der USA in Zentralamerika abzulegen.
Gleichzeitig wird das Biden-Team ein stark belastetes Einwanderungssystem erben. In den USA verfügt die Exekutive über starke Autorität in Migrationsfragen. Die Trump-Administration hat diese in noch nie dagewesenem Ausmaß ausgenutzt und missbraucht. Doch während Bidens Regierung auch ohne große Unterstützung des Kongresses aus eigener Kraft bedeutende Veränderungen herbeiführen kann, wird es Zeit und Mühe erfordern, den Schaden, den Trump angerichtet hat, zu korrigieren. Und all dies fällt in eine Phase der Verschärfung der COVID-19-Pandemie in den USA und auf der ganzen Welt. Diese wird zwangsläufig Aufmerksamkeit und Prioritätensetzung erfordern. Das birgt die Gefahr, dass die öffentliche Unterstützung für eine mutige Einwanderungspolitik – zumindest vorübergehend – nachlässt.
Gleichzeitig gibt es ermutigende Anzeichen dafür, dass eine dauerhafte Wende nah sein könnte. In den USA ist die öffentliche Meinung gegenüber Einwanderern während der Trump-Administration insgesamt positiver geworden, da die Regierungspolitik umgekehrt auf wachsende Ablehnung gestoßen war. Als Trump den US-Staaten im September 2019 die Möglichkeit einräumte, die Aufnahme umgesiedelter Flüchtlinge abzulehnen, sprach sich eine überparteiliche Mehrheit von 42 Gouverneuren und vielen weiteren lokalen Beamten für die Aufnahme aus. Einwanderer und Flüchtlinge sind als wichtige Arbeitskräfte in der Zeit der Pandemie sichtbarer denn je. Hinzukommen internationale Abkommen, namentlich der Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration und der Globale Pakt für Flüchtlinge, die 2018 von der UN-Generalversammlung bestätigt wurden. Doch ohne eine entsprechende Führung durch die Vereinigten Staaten oder anderer Staaten mangelt es diesen Abkommen an Wirksamkeit.
Die neue Regierung von Joe Biden steht an vielen Fronten vor großen Herausforderungen. Das bietet auch die Möglichkeit, in der Migrationsfrage vorwärtsgerichtet und strategisch vorzugehen. Wenn sie ihre globale Führungsrolle und ihr internationales Engagement ausbaut und die Unterstützung nicht-staatlicher Akteure und des Privatsektors für mutige Reformen nutzt, könnten sich die nächsten vier Jahre als entscheidend erweisen: Nicht nur, um zurückzunehmen, was Trump getan hat, sondern auch um Amerikas Kurs in Sachen Migration und Flüchtlinge für die Zukunft neu zu bestimmen.
Der Kommentar spiegelt die private Meinung des Autors und keine offizielle Position des US Refugee Council wider.