Ein Klagerecht für alle: Kommentar von Prof. Wolfgang Däubler, Universität Bremen

Diesel-Geschädigten muss geholfen werden – darüber waren und sind sich alle einig. Der Gesetzgeber hat deshalb erstaunlich schnell eine „Musterfeststellungsklage“ geschaffen, die auch von einem Verbraucherverband erhoben werden kann. Hat sie Erfolg, können sich die einzelnen Käufer eines Fahrzeugs darauf berufen und müssen nur noch ihren individuellen Schaden belegen.
Das ist weniger neu als es im ersten Augenblick erscheint. Seit 1976 haben Verbraucherverbände das Recht, gegen unbillige Allgemeine Geschäftsbedingungen vorzugehen. So haben beispielsweise die Banken urspünglich die Darlehenszinsen immer so berechnet, dass der am Jahresanfang geschuldete Betrag zu Grunde gelegt wurde. Die im Laufe des Jahres erfolgenden Tilgungen wurden nicht berücksichtigt – der Kreditnehmer zahlte also Zinsen für etwas, was er gar nicht mehr schuldete. Diese Praxis hat der Bundesgerichtshof auf Antrag eines Verbraucherverbands für rechtswidrig erklärt; seither ist sie verschwunden.
Klagen können auch Verbraucher- und andere Verbände, wenn ein Unternehmen unlauteren Wettbewerb betreibt. Wer falsche Behauptungen in der Werbung aufstellt (Note „sehr gut“ bei der Stiftung Warentest, obwohl gar kein Test stattfand), kann deshalb verurteilt werden, die Behauptung zurückzunehmen und sie in Zukunft zu unterlassen. Wer sich aufgrund eines schönen Prospekts an einem Schiffsfonds oder einem Immobilienfonds beteiligt, kann Schadensersatz verlangen, wenn Zusagen nicht eingehalten oder wichtige Dinge verschwiegen wurden. Auch hier wird den Geschädigten geholfen: Klagen viele, wird das Verfahren unterbrochen und ein Kläger ausgesucht, dessen Verfahren zu Ende geführt wird. Ist es erfolgreich, können sich alle anderen z.B. auf die Fehlerhaftigkeit des Prospekts berufen, sogar solche, die gar nicht selbst geklagt, sondern sich nur in ein „Klägerregister“ eingetragen haben. Schließlich können Umweltverbände klagen, weil Umweltschutzvorschriften verletzt wurden; das ist heute allgemein akzeptiert.
Im Arbeitsrecht gibt es nichts Vergleichbares. Der Arbeitnehmer wird zwar als Verbraucher angesehen, aber das nutzt ihm hier wenig: Das „Unterlassungsklagengesetz“, das u.a. die Verbandsklage wegen rechtswidriger Klauseln im Kleingedruckten regelt, nimmt das Arbeitsrecht ausdrücklich aus. Wenn im Arbeitsvertrag steht: „Der Arbeitnehmer kann aus betrieblichen Gründen an jeden Standort des Konzerns innerhalb der EU versetzt werden“, so ist das zwar rechtswidrig, weil etwas Derartiges nur unter gebührender Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen vereinbart werden darf, doch müsste er selbst klagen, um diese Klausel aus seinem Vertrag rauszubekommen. Wer macht das? Im Regelfall klagt ein Arbeitnehmer nur dann gegen seinen Arbeitgeber, wenn das Arbeitsverhältnis gekündigt ist oder aus anderen Gründen vor der Auflösung steht. Wegen einer Klausel, die vielleicht gar nie zur Anwendung kommt, will sich kein Arbeitnehmer den Unwillen seines Arbeitgebers zuziehen, der sich über eine Klage nicht gerade freuen wird.
Für den Arbeitnehmer ist es unter diesen Umständen sogar schwieriger als für einen Bankkunden, seine Rechte gerichtlich geltend zu machen. Ist die Bank „sauer“, kann man ohne große Nachteile zu einer anderen wechseln. Einen vergleichbaren Arbeitsplatz zu finden ist demgegenüber sehr viel problematischer und kann sich negativ auf die ganze Lebensführung auswirken. Warum gibt es trotzdem keine Verbandsklage im Arbeitsrecht?
In der veröffentlichten Literatur finden sich kaum Andeutungen. Man ist deshalb auf Vermutungen angewiesen.
Für die Arbeitgeberseite wäre es „lästig“, wenn die Gewerkschaften als wichtigster Verband der Gegenseite wegen mangelhafter Klauseln in Arbeitsverträgen klagen könnten. Dies würde ihren faktischen Einfluss vergrößern, sie wären eine zusätzliche Kontrollinstanz. Das schätzt die Arbeitgeberseite wenig und macht deshalb ihren politischen Einfluss geltend, damit es nicht passiert. Wie stark die Abneigung ist, wird an einer scheinbaren Kleinigkeit deutlich. Das alte Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen (das nie angewandt wurde) sah ein behördliches Klagerecht immer dann, wenn die Mindestarbeitsbedingungen nicht beachtet wurden. Das heutige Mindestlohngesetz enthält eine solche Regelung nicht mehr; Hinweise in der Literatur, dass das ein Rückschritt sei, wurden nicht beachtet.
Auch das gewerkschaftliche Engagement ist relativ beschränkt. Formal ist man dafür, aber so ganz ernst meint man es nicht. Die Befürchtung geht dahin, dass man für alle Missstände in den Betrieben verantwortlich gemacht wird („Ihr habt ja nicht geklagt“), gleichzeitig aber von den eigenen Ressourcen her nicht in der Lage ist, alle problematischen Fälle aufzugreifen. Möglicherweise will man sich auch nicht zu sehr mit der Arbeitgeberseite anlegen.
Damit wird eine große Chance vertan. Vermutlich müsste man wirklich kämpfen, um hier weiterzukommen. Das mag für gewerkschaftliche Spitzen-Repräsentanten ungewöhnlich sein, die sonst nur Gespräche in Ministerien und mit Abgeordneten führen. Aber wann wurden wirkliche Fortschritte jemals ohne Kampf erreicht?