Ein unteilbarer Wert

Kommentar von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, Bundesvorsitzende der SPD
Arbeit ist nie nur eine Frage des Broterwerbs allein. Es geht immer auch um Selbstbestimmung, gute Arbeitsbedingungen und die Chance auf persönliche Entwicklung und Freiheit. Es geht um den Wert der Arbeit, um Respekt und Anerkennung. Insofern dient Arbeit dem Lebensunterhalt in einem sehr umfassenden Sinne. Und dieser Wert ist nicht teilbar. Nicht im eigenen Land und auch nicht für diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zu uns kommen, um zu arbeiten – aus welchen Gründen auch immer. Das ist sozialdemokratische Überzeugung.
Menschen sollen die Chance haben, ihr Glück da zu suchen, wo sie glauben, es mit ihren Fähigkeiten und Talenten finden zu können. Unser Verständnis von Solidarität ist es dabei, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich nicht gegeneinander ausspielen lassen – nicht zwischen einzelnen Betrieben, nicht zwischen Nationen. Dieser Grundsatz ist so wichtig und so aktuell wie er immer war.
Darum ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa als ursozialdemokratisches Projekt eine Errungenschaft von historischer Dimension. Die Freiheit, dort Arbeit zu suchen und zu leben, wo man es möchte. Zur Wahrheit gehört auch: Kaum ein anderes Land in der Europäischen Union hat hiervon mehr profitiert als Deutschland. Unser Land ist bunter geworden und dabei stärker und erfolgreicher. Über die Verbindung der Arbeitnehmer_innen in ihre Herkunftsländer haben wir als Gesellschaft Verbindungen in alle Welt entwickelt.
Dabei liegt es in unserer Verantwortung, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Arbeitgebern nicht missbraucht wird für ausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Manche Unternehmen versuchen aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit Profit zu schlagen, indem sie Arbeitnehmer_innen als EU-Inländer oder EU-Ausländer kategorisieren und diese Kategorien gegeneinander ausspielen. Ihr Ziel ist es, den Arbeitsschutz und gute Arbeitsbedingungen zu schleifen und Dumpinglöhne zu etablieren.
Unsere Antwort darauf heißt Solidarität. Gemeinsam stehen wir ein für Gleichbehandlung, starken Schutz und bessere Regeln für alle Arbeitnehmer_innen gleichermaßen.
Die Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sind ein aktuelles Beispiel. Gier ist das Motiv für den skrupellosen Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit. Unser SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil will das stoppen – und wird immer wieder von CDU/CSU ausgebremst, die vor der Branchenlobby ein ums andere Mal einknicken. Das wird uns letztlich aber nicht aufhalten.
Denn wir sehen den Weg klar vor uns – und sind auch längst schon wichtige Schritte gegangen. Wenn wir zurückblicken, sehen wir die europäische Integration der vergangenen Jahrzehnte als weit gehend ökonomisch geprägt. Wenn wir aber den Blick nach vorne richten, dann sehen wir eine weitere deutliche Stärkung der sozialen und der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern am Horizont. Denn nur so wird ein vereintes Europa die allgemeine Akzeptanz erhalten, die es braucht, um langfristig bestehen zu können.
Für Deutschland ist es der nächste überfällige Schritt, die revidierte Europäische Sozialcharta endlich zu ratifizieren. Zum Beispiel für wirksame europäische Mindestlöhne.
Auch das erfolgreiche sozialdemokratische Modell des Kurzarbeitergeldes kann auf EU-Ebene eingeführt beziehungsweise ermöglicht werden. Die EU-Kommission stellt auf Initiative der SPD und von Olaf Scholz und Hubertus Heil 100 Milliarden Euro für das Sure-Programm bereit, das vor allem den heftig von der Corona-Krise getroffenen Ländern Südeuropas hilft, Massenarbeitslosigkeit zu verhindern.
Natürlich wissen wir: Wir sind lange noch nicht am Ziel. Viele Entwicklungen müssen vorangetrieben und weiter verbessert, andere erst noch angestoßen werden.
Auch bei der Debatte über Arbeitnehmerfreizügigkeit und Arbeitsmigration aus Ländern außerhalb der Europäischen Union geht es um nicht weniger als die grundlegenden Werte, auf denen Europa aufgebaut ist: Solidarität und Mitmenschlichkeit sind die Werte, die das Zusammenleben in allen Bereichen prägen und leiten müssen und damit auch die Wirtschaft und unser Zusammenarbeiten.
Nicht auszuklammern ist in dieser Debatte das Thema der „Wirtschaftsflüchtlinge“. Wir unterscheiden zwei Arten von Wirtschaftsflüchtlingen: Im üblichen Sprachgebrauch sind damit Menschen gemeint, die ihre Heimat und ihre Familie verlassen müssen, um eine Perspektive zu finden. Wirtschaftsflüchtlinge nach unserer Definition sind aber auch Arbeitgeber, die aus der Tarifbindung aussteigen und sich damit der Verantwortung für ihre Beschäftigten entziehen. Unternehmer, die von ihrer Gier getrieben pausenlos auf der Suche sind nach Nischen, um Dumpinglöhne zu zahlen und Arbeitnehmer_innenrechte zu unterlaufen. Immer auf der Flucht vor einer Wirtschaftsordnung, die den Menschen im Mittelpunkt sieht.
Wenn wir über Arbeitsmigration sprechen, dann geht es um die Werte unseres Zusammenlebens, -arbeitens und -wirtschaftens. Es geht aber auch darum, dass wir sie brauchen. Aufgrund der demografischen Entwicklung sind wir künftig noch stärker auf Zuwanderung aus Drittstaaten angewiesen. Wir brauchen die Unterstützung von qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und das wirtschaftliche Wachstum und unsere Sozialsysteme auch weiterhin zu sichern.
Am 1. März 2020 ist endlich das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft getreten, für das wir als SPD so lange gestritten haben. Damit öffnen wir den deutschen Arbeitsmarkt erstmalig vollständig nicht nur für Hochqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte mit Berufsausbildung.
Das war ein wichtiger Schritt, aber noch nicht das Ende des Weges. Es wird nicht die letzte Auseinandersetzung um den Zusammenhang von Arbeit, Selbstbestimmung, die Chance auf persönliche Entwicklung, Solidarität und Menschlichkeit gewesen sein – und um unsere eigenen Interessen, nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Arbeitsstandort. Es war ein wichtiger Schritt, aber noch nicht das Ende des Weges.