
Ein Zeitfenster für Vielfalt!

Kommentar von Valentin Feneberg und Anne-Kathrin Will, Humboldt-Universität zu Berlin, zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung
Die migrationsbedingte Vielfalt der deutschen Gesellschaft spiegelt sich in den Behörden des Landes nur unzureichend wider. Während mittlerweile jede_r Vierte in Deutschland einen so genannten „Migrationshintergrund“ hat, sind es gerade einmal sechs Prozent der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes.
Seit dem Nationalen Integrationsplan (2007) ist die Erhöhung des Anteils Beschäftigter mit Migrationshintergrund erklärtes Ziel der Bundesregierung. Auch viele Bundesländer und Kommunen wollen unter ihren Beschäftigten mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Geleitet ist dieses Vorhaben – zumindest implizit – von der Vision einer „repräsentativen Bürokratie“. Der öffentliche Dienst sollte als Arbeitgeber selbst offen für alle Bürger_innen sein und zugleich deren Interessen unabhängig von Zugehörigkeiten vertreten.
Die Babyboomer-Generation, die die Geburtsjahrgänge 1956 bis 1969 umfassen, erreichen seit Ende 2019 das reguläre Renteneintrittsalter; bis 2036 wird über die Hälfte aller Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung in den Ruhestand eintreten. Damit öffnet sich ein „Zeitfenster für Vielfalt“, in dem mehr Repräsentation geschaffen werden kann.
Im Rahmen einer Studie am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchten wir, ob sich die Verantwortlichen des kommenden Zeitfensters für Vielfalt bewusst sind, welche konkreten Maßnahmen in den Behörden umgesetzt werden und warum sich die Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund noch nicht maßgeblich verbessert hat. Das Studienteam interviewte dazu knapp vierzig Integrationsbeauftragte und Personalverantwortliche auf Bundes- und Landesebene sowie in ausgewählten Kommunen.
Die Befragung zeigt, dass die Pensionierungen der Babyboomer-Jahrgänge nur selten als Chance auf mehr Vielfalt verstanden wird. Zwar wird gesehen, dass die Leistungsfähigkeit der Verwaltung auch davon abhängt, auf ein vielfältigeres Publikum mit Vielfalt zu reagieren. Die gezielte Einstellung und Förderung von Menschen mit Migrationshintergrund scheitere aber an der Schwierigkeit, einen Migrationshintergrund in Auswahlverfahren zu berücksichtigen. Das läge zum einen an der unklaren Definition und datenschutzrechtlichen Vorgaben. Zum anderen verböte das verfassungsrechtliche Prinzip des Zugangs zu öffentlichen Ämtern der Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung (Art. 33, Abs. 2 GG), Menschen mit Migrationshintergrund im Auswahlprozess bei gleicher Qualifikation zu bevorzugen. Defizite wurden in erster Linie auf der Seite der Bewerber_innen lokalisiert, nicht in den Verwaltungen selbst.
Bislang konzentrieren sich Behörden auf die Verbreitung von Stellenausschreibungen, den Hinweis, dass Bewerbungen von Menschen mit Migrationshintergrund erwünscht sind und Ausbildungskampagnen. Doch damit wird kein Führungspersonal rekrutiert. Es fehlen konkrete Zielwerte sowie eine Evaluation der erreichten Ziele mit entsprechenden Nachsteuerungsmaßnahmen.
Hier sollten Politik und Verwaltung ansetzen und dynamische, den entsprechenden Bevölkerungsanteilen angepasste Zielwerte für die vier Laufbahngruppen im öffentlichen Dienst formulieren, z.B. im Rahmen eines Bundespartizipationsgesetzes. Es bedarf einer praxistauglichen Definition von „Migrationshintergrund“ sowie der Entwicklung zusätzlicher Kategorien, die rassistische oder auf Herkunft basierende Diskriminierung besser erfassen. Diese Maßnahmen müssen mit einem konsequenten Perspektivwechsel in Politik und Personalabteilungen einhergehen, um die im System liegenden Zugangsbarrieren zu überwinden und tatsächlich Fortschritte zu erzielen. Das Zeitfenster für Vielfalt in der öffentlichen Verwaltung ist weit geöffnet – es muss jetzt genutzt werden.
Anne-Luise Baumann, Valentin Feneberg, Lara Kronenbitter, Saboura Naqshband, Magdalena Nowicka, Anne-Kathrin Will, unterstützt von Dorothea Rausch (2019), Ein Zeitfenster für Vielfalt. Chancen für die interkulturelle Öffnung der Verwaltung.
Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung: https://www.fes.de/studie-zeitfenster-fuer-vielfalt