
Fortschritt ist auch: Aus Deutschland eine gute Einwanderungsgesellschaft machen

Kommentar von Elizabeth Beloe, Vorsitzende des Bundesverbandes Netzwerke von Migrantenorganisationen (BV NeMO)
Die Ampel-Koalition bezeichnet sich selbst als Fortschrittskoalition. Der BV NeMO sagt: Fortschritte sind in vielen Feldern nötig, vor allem auch beim Klima. Zugleich müssen aber der Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist, nun auch Taten folgen. Dieses ist umso dringlicher, weil die Corona-Krise wie in einem Brennglas zeigt, dass sich Deutschland als eine Einwanderungsgesellschaft in einer tiefen Krise befindet.
Viele Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte sind von Corona und ihren Folgen in besonders negativer Weise betroffen, weil ihre soziale Lage schon vorher problematisch war: im Gesundheitswesen, bei der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in Hinblick auf beengte Wohnverhältnisse und durch verstärkten Rassismus, der auch eine Begleiterscheinung der Corona-Krise ist.
Der BV NeMO weiß, wovon er spricht: mit lokalen, herkunftsübergreifenden Verbünden in bundesweit mehr als 20 Städten und 800 Mitgliedsvereinen sind wir nahe bei den Menschen.
Nun liegt der Koalitionsvertrag vor und die neue Regierung ist gebildet. Der Koalitionsvertrag ist so etwas wie die Blaupause für das künftige Regierungshandeln und damit auch das Rahmenpapier für die ersten 100 Tage.
Bei einer ersten Durchsicht des Koalitionsvertrags zeigt sich: Es gibt viele Berührungs- und Anknüpfungspunkte mit unseren Forderungen. In Wort und Geist zeigt sich eine viel größere Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragen, die mit einer guten Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft verbunden sind. Programmatisch deutlich wird dies in folgendem Satz: „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel.“
Vieles im Koalitionsvertrag liest sich auch deswegen sehr fortschrittlich und frisch, weil es eben in wichtigen gesellschaftlichen Feldern, vor allem was Migration und Asyl betrifft, jahrelang Stagnation und sogar Rückschritt gegeben hat und ein hoher Nachholbedarf besteht. Dass es jetzt diesen Veränderungswillen gibt, begrüßen wir sehr.
Unsere 10 Forderungen für die ersten 100 Tage an die Ampel sind: Gute Bildung für alle und Gesundheit in und nach der Corona-Pandemie, jetzt besonders dringlich, eine humane Asylpolitik. Wir fordern Umweltgerechtigkeit und globale Solidarität, Teilhabe mit guter Arbeit, Vielfalt, vor allem auch im Öffentlichen Dienst. Gegen Fachkräftemangel setzen wir auf Ausbildung und Einwanderung. Wir erwarten, dass der Staat Rassismus und Diskriminierung bekämpft und allen gleiche politische Rechte einräumt. Statt der leerlaufenden „Integrationsgipfel“ wollen wir einen „Pakt für Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft“. Migrant_innen-Organisationen halten wir für unverzichtbar und, „über Corona hinaus“ soll ein Masterplan führen: ein Sofortprogramm gegen die sozialen Folgen der Corona-Krise, insbesondere auch für Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
Zu fast allen diesen Punkten finden sich an verschiedenen Stellen des Koalitionsvertrags Aussagen und Vorhaben, die weiterführen und deren Umsetzung tatsächlich zu einem erheblichen gesellschaftlichen Fortschritt führen würden. Eine detaillierte Bewertung von unserer Seite aus ist in Arbeit.
Aber: Der Vertrag ist klassisch nach Politikbereichen und Zuständigkeiten aufgebaut. Fragen der Einwanderungsgesellschaft werden also wieder auf ein spezielles Politikfeld verengt und ebenso traditionell vor allem unter dem Stichwort „Integration“ behandelt, wo nach 60 Jahren Einwanderung endlich Teilhabe angemessen wäre. Unsere zehn Punkte aber weisen daraufhin: Einwanderungsgesellschaft ist Wirklichkeit in allen Politikbereichen und deshalb eine Querschnittsfrage. Von daher fehlt eine Gesamtsicht auf den Zustand der Einwanderungsgesellschaft.
Unsere Wahrnehmung, dass die Einwanderungsgesellschaft in der Krise ist, findet im Koalitionsvertrag keine Entsprechung. Folglich finden Migrant_innenorganisationen im Koalitionsvertrag auch nur beiläufig Erwähnung, während sie de facto für die gute Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft von erheblicher Bedeutung sind. Auch unser wichtiges Anliegen findet keinen Ankerpunkt, nämlich ein Masterplan „Über Corona hinaus“.
Die 10-Punkte-Positionierung des BV NeMO ist also durch den Koalitionsvertrag erstens nicht erledigt und zweitens ist der Koalitionsvertrag erst einmal Programm. Es wird sehr darauf ankommen, was in den ersten 100 Tagen an Weichenstellungen wirklich passiert. Der BV NeMO trifft sich zu einer Zwischenbilanz nach 100 Tagen am 21. März 2022 in Berlin.
Entnommen aus Forum Migration Januar 2022