Leben zu bewahren ist Pflicht - Kommentar von Stephan Neher

Rottenburg am Neckar hat sich im Januar 2019 mit einem einstimmigen Gemeinderatsbeschluss als Sicherer Hafen erklärt und damit ein Zeichen für Menschlichkeit und Frieden gesetzt. Wir sind verpflichtet Menschen in Seenot zu retten, das gebietet auch meine christliche Überzeugung.
Die Idee „Sicherer Hafen“ zu werden, hatte Friedhold Ulonska, ein Bürger unserer Stadt. Er war schon mehrfach auf dem Rettungsschiff Seawatch und fragte mich eines Tages, ob das nicht eine gute Idee für Rottenburg wäre. Der Gemeinderat musste nicht lange überzeugt werden. Wir waren uns schnell einig, dass wir nicht tatenlos zusehen können, wie Menschen auf dem Weg ihrer Flucht sterben müssen, weil Europa keinen gemeinsamen Weg findet und das Menschenrecht auf Leben nicht achtet. Wir als Stadt wollen unseren Beitrag leisten, dass Europa menschlich handelt und sind deshalb als Sicherer Hafen bereit, die aus Seenot geretteten Geflüchteten aufzunehmen. Das ist selbstverständlich kein Freifahrtschein oder Bonus im Asylverfahren. Denn auch diese Menschen durchlaufen das normale Asylverfahren, an dessen Ende auch die Abschiebung stehen kann. Ich sehe hier letztendlich keinen Unterschied zwischen aus Seenot geretteten und anderen Flüchtlingen. Aber entscheidend ist, dass Menschen in Seenot zunächst gerettet werden müssen und dieser Grundsatz darf nicht von politischen Überlegungen überlagert werden. Wir schneiden den Raser, der unverantwortlich einen Verkehrsunfall verursacht hat, selbstverständlich aus dem Wrack, um sein Leben zu retten, und entscheiden erst danach, wie er zur Verantwortung gezogen wird.
Als sich im Juni 2019 das Bündnis der Sicheren Häfen-Städte gründete, waren wir gerne von Anfang an dabei. Das Bündnis ist eine starke Stimme der aufnahmebereiten Kommunen. Je mehr dabei sind, umso mehr verteilen sich am Ende auch die Lasten auf viele Schultern. Natürlich kann nicht jede Kommune unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen. Aber wir in Rottenburg haben die Kapazität und ich weiß, dass auch unsere Bürgerschaft dahintersteht. Die Stadt hat schon oft gezeigt, dass sie weltoffen ist und dass Vorbehalte bis hin zu Intoleranz und Ausländerfeindlichkeit hier keine Chance haben. Das Ehrenamt ist breit aufgestellt und leistet hervorragende Integrationsarbeit. Das Bündnis der Sicheren Häfen fordert vom Bund, dass die aufnahmebereiten Städte die Schutzsuchenden tatsächlich aufnehmen können und dass hierfür konkrete Maßnahmen und Abläufe miteinander besprochen und vereinbart werden. Gleichzeitig erwarten wir, dass sich der Bund für eine gesamteuropäische Lösung einsetzt.
Bei uns in Rottenburg geht es uns nicht um Zahlen oder Quoten, die wir erfüllen oder gar erhöhen möchten. Denn Menschenrechte lassen sich nicht beziffern. Das gilt auch für die untragbaren Zustände in Lagern auf den griechischen Inseln. Es ist für Europa nicht tragbar, dass dort Menschen unter Plastikplanen und grauenhaften Hygienebedingungen kampieren müssen. China schafft es aufgrund einer akuten Epidemie-Gefahr, eine Klinik mit 1.000 Betten in zehn Tagen zu bauen. Dann sollte Europa doch wohl in mindestens hundert Tagen in der Lage sein, für eine halbwegs menschenwürdige Unterbringung zu sorgen. Wir sind gerne bereit, wenigstens die zahllosen unbegleiteten Minderjährigen aus den Lagern zu holen und bei uns unterzubringen. Im 4-Punkte-Papier als Ergebnis des 1. Arbeitstreffens der Städte Sicherer Häfen im Oktober in Rottenburg haben wir uns darauf verständigt, die zusätzliche Aufnahme aus humanitären Notlagen im Mittelmeerraum zu ermöglichen. Dies schließt sowohl die griechischen Inseln als auch unbegleitete Minderjährige ein.
Christliche Werte werden nicht nur sonntags in der Kirche gepredigt, sondern im Alltag gelebt. Als Bischofsstadt ist es uns ein besonderes Anliegen, Menschen in Not zu helfen. Ich stehe dafür ein, dass ein Fluchtweg sicher endet.
Stephan Neher, Oberbürgermeister der Stadt Rottenburg am Neckar
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