Migranten schulden Deutschland nichts: Kommentar von Ferda Ataman

„Gastarbeiter“ ist wirklich ein schräges Wort. Wer bitte lässt seine Gäste Toiletten putzen und Akkordarbeit am Fließband verrichten? Einwanderer wie meine Eltern wurden geholt, um die Drecksarbeit zu machen. Das Wörtchen „Gast“ sollte eigentlich nur klarstellen: die gehen wieder. Doch das Rotationsprinzip war auf Dauer zu teuer für die Wirtschaft und die Bosse wollten ihre Arbeiter behalten. Dass ich 1979 als Kind von türkischen Gastarbeitern in Deutschland geboren wurde lag ausschließlich am wirtschaftlichen Interesse der Bundesregierung. Zu keiner Zeit ging es darum, Menschen aus ärmeren Ländern etwas Gutes zu tun. Man brauchte sie. Trotzdem erwarten viele Menschen bis heute Dankbarkeit von Migranten. Und diese Erwartung wird sogar vererbt. Auch ich soll dankbar sein, dass ich hier leben darf. Das ärgert mich.
Anfang der 70er-Jahre als sich die Gastarbeiter-Ära dem Ende neigte, wurden Frauen geholt, weil sie noch billigere Arbeitskräfte waren als Männer. Meine Mutter gehörte zur „Leichtlohngruppe“, was in ihrem Fall hieß, dass sie schlechter bezahlt wurde als männliche Gastarbeiter, die schon schlechter bezahlt wurden als Deutsche. Sie hat mir mal von dem Tag erzählt, an dem sie in Ankara zur Leibesvisitation einbestellt wurde: nackt hinstellen, Hände ausstrecken, Zunge raus. Dann abgetastet werden und ab aufs Klo, in einen Becher pinkeln. „Wir fühlten uns wie Vieh“, sagt sie. Die Gesundheitsprüfung in der „Deutschen Verbindungsstelle“ gab es, weil Gastarbeiter_innen nicht schwanger sein oder Gebrechen mitbringen durften. Sie waren für harte Arbeit vorgesehen. Das kann man legitim finden. Aber eine Aktion der Nächstenliebe ist das nicht.
Die Menschen, die kamen, arbeiteten unter schlechten Bedingungen zu miserablen Löhnen und sollten schnell wieder gehen. Sie kannten ihre Rechte nicht, waren ihren Arbeitgebern ausgeliefert und wurden oft ausgebeutet. So wie Armando Rodrigues de Sá, der millionste Gastarbeiter, der 1964 aus Portugal kam und in der Bundesrepublik mit einem Geschenk begrüßt wurde: ein Moped und ein Strauß Nelken. Das Schwarzweiß-Bild von der feierlichen Begrüßung des verdutzten Gastarbeiters am Bahnhof ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Nach sechs Jahren kehrte Armando Rodrigues de Sá in die Heimat zurück und blieb dort, weil bei ihm Magenkrebs festgestellt wurde. Niemand hatte ihm in Deutschland gesagt, dass er Anspruch auf Krankengeld hatte. Seine gesamten Ersparnisse aus Deutschland gingen für die Behandlung drauf. Als er mit 53 Jahren verarmt starb, nahm die deutsche Öffentlichkeit keine Notiz davon.
Die meisten unserer Eltern haben diese Lebensphase als sehr schwere Zeit abgespeichert. Das hat auch uns geprägt. Man war nicht stolz darauf, Gastarbeiterkind zu sein. Das kommt erst jetzt: Ich bin stolz auf meine Eltern. Und umso mehr lege ich Wert darauf, dass niemand Dankbarkeit von uns verlangt.
Unsere Selbstwahrnehmung als migrationsfreundliche und (zu) tolerante Gesellschaft ist schief. Unsere Eltern sind keine Gäste, sie haben dieses Land mit aufgebaut. Wenn man ihnen gegenüber tolerant ist, dann nicht aus Großzügigkeit, sondern weil sie Bürger_innen dieses Landes sind und Rechte haben. Deutschland ist auch ihre Heimat und sie schulden ihr nichts. Die ewige Leier von der Dankbarkeit nervt nicht nur, sie ist auch unlogisch.
Wir diskutieren Migration in Deutschland eigentlich ausschließlich unter einem Gesichtspunkt: dem Nutzwert. Welche Migrant_innen bringen uns was und wie viele davon wollen wir haben? Menschen nur über ihren Gebrauchswert zu betrachten, ist eine Möglichkeit (wenn Sie mich fragen, die falsche). Aber dann darf man keine Dankbarkeit erwarten. Entweder. Oder.
Wenn wir über Dankbarkeit reden wollen, dann bitte anders herum: Unser Land verdankt seinen Migranten viel. Das gilt auch heute noch. Menschen kommen aus dem Ausland und schuften auf dem Bau oder arbeiten in Krankenhäusern auf dem platten Land, wo niemand hinziehen will. Migranten halten unser System aufrecht, oft nur für kleines Geld und unter prekären Bedingungen. Ohne Migration wäre unser Sozialstaat womöglich schon im Eimer und der Wohlstand in Gefahr. Doch bis heute gibt es keine offizielle Anerkennung für die Leistungen der Eingewanderten. In Schulbüchern und im Geschichtsunterricht findet dieses Narrativ nicht statt. Die Rolle unserer Eltern in Deutschland wird nicht erzählt oder wenn, dann nur als Erklärung, warum wir heute so viel über Integrationsprobleme reden.
Wir brauchen ein neues Narrativ. Eins, das auch uns mitnimmt und einschließt.
Ferda Ataman ist Publizistin und schreibt die Heimatkunde-Kolumne bei Spiegel Online. Sie ist Vorsitzende der „Neue deutsche Medienmacher“ und Sprecherin der „neuen deutschen organisationen“, einem bundesweiten Netzwerk von postmigrantischen Initiativen für eine offene Gesellschaft. Im April erschien „Hört auf zu fragen. Ich bin von hier“ im S. Fischer Verlag