
Mythos von der Invasion Europas

Kommentar von Boniface Mabanza von der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika und Mitglied der Unabhängigen Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung
Im Juni hat das UN-Flüchtlingswerk UNHCR erneut einen Rekord vermeldet: 82,4 Millionen Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht – doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Besonders dramatisch ist die Lage in Europas südlichem Nachbarkontinent Afrika. Aus diesem Anlass haben wir zwei Mitglieder mit afrikanischen Wurzeln der „Fachkommission Fluchtursachen“ der Bundesregierung gefragt, welche Konsequenzen Deutschland aus den wachsenden globalen Fluchtbewegungen, gerade mit Blick auf Afrika ziehen sollte.
Online lesen Sie auch den Beitrag von Fred-Eric Essam von indent.africa, ebenfalls Mitglied der Kommission.
Mehr als 150 Bundesverdienstkreuzträger_innen und zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen haben die Einsetzung der Enquete-Kommission Fluchtursachen unterstützt. Die Kommission sollte die Ursachen von Flucht untersuchen und dabei besonders in den Blick nehmen, inwiefern Deutschland selbst Fluchtverursacher ist.
In ihrer Arbeit hat die Fachkommission tatsächlich Deutschland und die EU in den Blick genommen, aber auch die Ursachen für Flucht und irreguläre Migration in den Herkunftsländern und in Transitländern analysiert. Somit wollte sie zeigen, dass die große Mehrheit der Menschen auf der Flucht Europa nicht erreichen, sondern in ihren Nachbarregionen bleiben. Europa ist nicht das erste Ziel der Menschen auf der Flucht weltweit und ist auch für die meisten aus verschiedenen Gründen nicht erreichbar, auch wenn manche Kräfte in der EU den Mythos der Invasion Europas pflegen.
Eine große Stärke der Arbeit dieser Kommission liegt daran, dass sie die globalen Dimensionen der mit Flucht und illegaler Migration verbundenen Probleme ernst nimmt, aber zugleich lösungsorientiert das Augenmerk auf das lenkt, was Deutschland tun kann. Dabei hat sie Wert darauf gelegt, zu thematisieren, dass die verschiedenen Gründe von Flucht und irregulärer Migration sich bedingen und gegenseitig verstärken und dass es wichtig ist. den Wechselwirkungen der verschiedenen Fluchtursachen Rechnung zu tragen. So identifiziert die Kommission Krieg und bewaffnete Konflikte beispielsweise als die wichtigste Ursache von Flucht und macht deutlich, dass auch Deutschland hierfür eine Verantwortung trägt. Schließlich entfielen zwischen 2018 und 2020 rund 48 Prozent der Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Rüstungsexporte auf Länder außerhalb von EU und NATO – und hier vor allem auf Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika.
Angesichts der Tatsache, dass Menschen in bestimmten Teilen der Welt aufgrund der Folgen des Klimawandels in ihrer Heimat keine Perspektive mehr haben, finde ich es auch von zentraler Bedeutung, dass die Kommission anregt, dass in Anlehnung an die Leitlinien für Binnenvertreibung auch Leitlinien zu Klima- und Katastrophenvertreibung entwickelt werden, um zu vermeiden, dass Menschen in die Staatenlosigkeit geraten. Die Fachkommission analysiert den Klimawandel als Gerechtigkeitsproblem zwischen Norden und Süden, aber auch zwischen den Generationen.
Im Bereich Wirtschaftspolitik bezieht sich die Kommission unter anderem auf das Lieferkettengesetz (siehe Seite 2), das zum Zeitpunkt der Endredaktion dieses Berichtes noch als Entwurf vorlag. Die Kommission hat sich auf die Aussage beschränkt, dass „bei entsprechender Ausgestaltung das Lieferkettengesetz einen Schritt in die richtige Richtung darstellen könnte“. Ob das Lieferkettengesetz in der endgültigen Fassung in die richtige Richtung weist, dürfte von den einzelnen Kommissionsmitgliedern unterschiedliche gesehen werden – für mich persönlich geht dieses Gesetz nicht weit genug und stellt eine verpasste Chance dar.
Auch von Bedeutung ist für mich, dass die Fachkommission Empfehlungen formuliert hat, die darauf abzielen, die Situation in den Herkunftsländern der Geflüchteten und in Transitländern zu verbessern. Dies gilt zum Beispiel für den Agrarbereich, wo es darauf ankommt, eine „produktive, ökologisch orientierte Agrar- und Ernährungswirtschaft auf- beziehungsweise auszubauen, die vor allem die lokale und regionale Versorgung sicherstellt“.
Im Bereich der Handelspolitik setzt sich die Kommission am Beispiel von Afrika dafür ein, dass sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für entwicklungsfreundliche Handelsverträge einsetzt. Die bereits geltenden Interimsabkommen der EU mit Ländern wie Kamerun, Côte d`Ivoire und Ghana und das regionale Abkommen mit der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC) sind alles andere als entwicklungsfreundlich. Der afrikanische Kontinent braucht starke regionale Wertschöpfungsketten. Die entstehende Afrikanische Freihandelszone will dazu beitragen und benötigt regionale Wertschöpfungsketten, um effektiv werden zu können. Die EU, die Bundesrepublik Deutschland und andere Mitgliedstaaten behaupten, die Afrikanische Freihandelszone unterstützen zu wollen. Aber es fehlt eine kohärente, abgestimmte Strategie, denn die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen stehen mit vielen ihrer Klauseln im eklatanten Widerspruch zu den Zielen dieser Afrikanischen Freihandelszone. Es ist zu begrüßen, dass die Fachkommission der Bundesregierung die Probleme zumindest erkannt hat und entsprechende Empfehlungen formuliert hat.
Bericht Fachkommission Fluchtursachen
Entnommen aus Forum Migration Juli 2021