
Neue Räume für die Vielfaltsgesellschaft

Kommentar von Friederike Ekol, Geschäftsführerin der Interkulturellen Woche
Um gesellschaftliche Veränderungen konstruktiv zu gestalten, brauchen wir neue Räume. Viele Räume der pluralen Demokratie existieren bereits, aber viele von ihnen müssen neu erfahrbar und zugänglich gemacht werden. Genau das leistet die Interkulturelle Woche (IKW) Jahr für Jahr.
Sie wurde vor fast 50 Jahren von den großen Kirchen in Deutschland initiiert. Von Anfang an dabei waren Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Migrant_innenorganisationen. Seit Jahrzehnten findet sie bundesweit im September in mittlerweile mehr als 600 Städten und Gemeinden mit rund 5.000 Veranstaltungen statt – im nächsten Jahr auch explizit unter dem Motto „Neue Räume“.
Denn die Vielfaltsgesellschaft braucht Räume für ihre Repräsentanz. Gerade auf kommunaler Ebene besteht Nachholbedarf. So sind Menschen mit einer familiären Migrationsgeschichte unterdurchschnittlich in der Kommunalpolitik vertreten. Auch in den kommunalen Institutionen besteht Handlungsdruck: Ausländerbehörden zum Beispiel müssen endlich konsequent zu Welcome-Centern umgebaut werden, die serviceorientiert arbeiten und Diversität als Stärke in die eigene Struktur integrieren.
Die Perspektiven von Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind für die Gestaltung der Gesellschaft auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene unabdingbar wichtig.
Das Nachdenken darüber, welche Räume relevant sind und wer sie gestaltet und gestalten darf, deckt auch auf, warum Menschen nach wie vor erschwerten oder gar keinen Zugang zu gesellschaftlich und politisch wichtigen Räumen haben: So bleiben Wahlkabinen Menschen aus so genannten Drittstaaten, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes in Deutschland, verschlossen. Ein modernes Einwanderungsland braucht dringend die erleichterte Einbürgerungspraxis unter Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit.
Alarmierend sind die steigenden Angriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten in Deutschland. Der Schutz dieser Räume muss intensiviert werden – die Forderung nach dezentraler Unterbringung ist aktueller denn je, und auch die Zivilgesellschaft ist wieder gefragt, aktiv auf Menschen zuzugehen, die dort untergebracht sind und sich solidarisch mit ihnen zu zeigen. Das bedeutet auch, an Orten, wo rechte Hetze und rechter Terror sichtbar werden, aufzustehen und konsequent die plurale Demokratie zu verteidigen. Polizei und Gerichte stehen in der Pflicht, rechtsextreme Taten zeitnah und konsequent als solche zu benennen und zu ahnden.
Wirtschaftliche Teilhabe und die Integration in den Arbeitsprozess sind wichtige Voraussetzungen für ein gutes Ankommen und die Möglichkeit, sich neue Räume zu erschließen. Ein besonderes Augenmerk muss hierbei Frauen gelten. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat für Frauen, die alleine mit ihren Kindern auf der Flucht sind, eine besondere Brisanz. Und auch da, wo Familien gemeinsam fliehen konnten, ist für sie der Spagat zwischen Ausbildung/Beruf und Familie oft besonders schwer.
Vor Ort in den Kommunen, Gewerkschaften, Verbänden und Vereinen eröffnen sich zivilgesellschaftlich wichtige Räume. Diese können genutzt werden, um die plurale Demokratie mitzugestalten. Das Engagement im Rahmen der Interkulturellen Woche trägt dazu bei, Demokratie lebendig und inklusiv aufrecht zu erhalten – gemeinsam stark und solidarisch niemanden in der Krise alleine zurückzulassen. Menschen mit Einwanderungsbiografie sind vielfach in besonderer Weise von Krisen betroffen. Wichtige Ansprechpartner_innen sind hier auch die Gewerkschaften.
Der Politik kommt die wichtige Aufgabe zu, gesellschaftlichen Frieden und Entwicklung durch Teilhabe und Chancengleichheit zu ermöglichen. Wir erwarten dringend, dass das kommende Demokratiefördergesetz verlässliche Ressourcen für zivilgesellschaftliches Engagement schafft.
Und die Feinde der pluralen Demokratie? Die wittern ihre Chance, sich die Pandemie, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Energiekrise als Endzeitszenario zu Nutze zu machen und neue Allianzen zu schmieden: Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungstheorien haben Konjunktur. Hass und Hetze dröhnen durchs Netz und Anschläge auf Muslime, Juden, Geflüchtete und als „fremd“ markierte Menschen sind fürchterlicher Alltag.
Die Menschen, die sich im Rahmen der Interkulturelle Woche engagieren, halten dagegen und zeigen, wie stark und entschieden die vielen dem Hass entgegentreten können.
Auch in Betrieben gelingt dies besonders gut, wo Menschen, die zusammenarbeiten, sich kennen lernen und aus verschiedenen Richtungen aufeinander zugehen und Verständnis für die Situation des und der anderen entwickeln.
Sie alle öffnen, gestalten, bauen, erfahren, planen, erkunden oder verteidigen – neue Räume.
Entnommen aus Forum Migration Dezember 2022