Nicht aus der Vergangenheit gelernt: Kommentar von Martin Hyung

Gastkommentar von Martin Hyung zur Anwerbung von Pflegekräften. Hyung ist Autor und Kolumnist und Gründer des interkulturellen Vereins „Hockey is Diversity e.V.“ Er veröffentlichte u.a. den Band „Ohne Fleiß kein Reis. Wie ich ein guter Deutscher wurde“.
Schon wieder befindet sich Deutschland im Pflegenotstand. Als ich mit Gesundheitsminister Spahn in einer gesonderten Runde der „Konzertierten Aktion Pflege“ mit Verbandsvertretern und Vermittlungsagenten saß, die über Anerkennungsverfahren, Entscheidungspraktiken, Finanzierung, Preise und Visaerteilungen diskutierten, ließ mich das Gefühl nicht los, als würden wir hier über Produkte vom Supermarkt reden, die wir nur einfach über einen Barcode-Scanner ziehen oder per Mausklick bestellen können. Da ich selbst das Produkt einer solchen Migration bin, konnte ich mir eine Bemerkung in die Runde nicht verkneifen: Nämlich, dass die Verzahnung zwischen Bund, Land und Kommune bei den damaligen Anwerbeabkommen von Pflegefachkräften eigenartigerweise funktionierte – und heute nicht.
Denn schon ab 1965 warb die Bundesregierung Pflegepersonal aus den Philippinen an. Und seit 1966 haben deutsche Krankenhäuser zunächst auf privater Initiative koreanische Krankenschwestern angeworben. Die offizielle staatliche Anwerbung erfolgte einige Jahre später durch ein „Programm zur Beschäftigung qualifizierter koreanischer Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen in deutschen Krankenhäusern“ vom 26. Juli 1971. Bis 1977 kamen ca. 11.000 südkoreanische Krankenschwestern. Eine davon war meine Mutter.
Sie zog, wie viele ihrer Landsfrauen, 1971 nach Deutschland, um hier als Krankenschwester zu arbeiten. Welche Lehren hat die Bundesrepublik aus der Anwerbung dieser Epoche gezogen? Es scheint als hätte man diesen Teil der Geschichte vergessen. Und das verwundert mich nicht.
Wenn ich in Gesundheitsgremien und Kongressen auf die Interessenvertreter_innen und Entscheidungsträger_innen schaue, fällt mir eines sofort auf – sie sind sehr homogen, alt und weiß. So sehr, dass alle anderen auffallen: Als ich bei einem Gesundheitskongress den Raum betrat, fragte mich der Präsident des Arbeitgeberverbandes für Pflege, ob ich der Dolmetscher sei.
Der Präsident des Arbeitgeberverbandes brachte es auf den Punkt. Er sagte, dass die Wahrnehmung von uns asiatischen Migrant_innen als Führungskraft in der Branche noch weit entfernt ist. Ich musste zur Kenntnis nehmen, mit welcher Kurzsichtigkeit das Thema Pflegefachkräfte-Anwerbung seitens der Politik und der Verbände behandelt wird.
Mussten wir 42 Jahre abwarten, um mit einer aufwändig finanzierten Studie aus Bundesmitteln festzustellen, dass ein A2- oder B1-Sprachniveau und eine auf zwei Jahre verkürzte Ausbildungszeit nicht ausreichen, um in der Pflegewelt zu bestehen? 42 Jahre nach Anwerbung der südkoreanischen Pflegefachkräfte sind wir zu wenig vorbereitet auf das, was der demografische Wandel bedeutet. Und das kann nicht der Maßstab eines Einwanderungslandes sein.
Gesundheitsminister Jens Spahn reiste kürzlich in den Kosovo und nach Mexiko, um Pflegefachkräfte anzuwerben. Seine parlamentarische Staatssekretärin Sabine Weiß besuchte die Philippinen in gleicher Mission. Bei der Anwerbung hält sich die Bundesregierung an den Kodex der Weltgesundheitsorganisation. Der sieht vor, dass nur Pflegefachkräfte aus gelisteten Ländern angeworben werden, die über einen Überschuss an Fachkräften verfügen. Eine anscheinend noble Geste, wie damals als die Anwerbung der Gastarbeiter als „technische Entwicklungshilfe“ galt.
Inzwischen sprießen Vermittlungsagenturen wie Pilze aus dem Boden. Der Markt für die internationale Arbeitsvermittlung ist übersichtlich geworden, die Qualität und Erfahrung der Anbieter höchst unterschiedlich. Es bedarf eines einheitlichen, rechtlich bindenden Instrumentes in Form eines Qualitätszertifikates mit Qualitätsindikatoren, die zur nachhaltigen Qualitätssteigerung der Pflege und Betreuung beitragen.
Doch im Augenblick erscheint die Anwerbepolitik eher wie ein großes Experiment – Flüchtlinge sollen in die Pflegeberufe integriert werden, so wie damals die Schlecker-Mitarbeiterinnen zu Erzieherinnen umgebildet werden sollten. Fakt ist: Deutschland ist für Fachkräfte nicht Zielland Nummer 1. Deutschland konkurriert mit anderen sehr attraktiven Ländern wie den USA, Kanada, Neuseeland und anderen um die Gunst der Pflegefachkräfte für ihre alternde Gesellschaft. 42 Jahre nach Anwerbung der südkoreanischen Krankenschwestern müssen wir als Einwanderungsland weiter sein.
aus Forum Migration Februar 2020