
Rassistischer Sozialstaat

Ein Kommentar von Claudius Voigt, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender Münster
Das bundesdeutsche Sozialrecht hat ein Rassismusproblem: Das Gesetz ist durchzogen von systematischen Leistungsausschlüssen für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Die staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums scheint demnach in vielen Fällen für nicht-deutsche Staatsangehörigen außer Kraft gesetzt – oder nur unter der Bedingung zu gelten, dass sie wirtschaftlich verwertbar sind.
Diese gesetzlich normierte rassistische und klassistische Diskriminierung führt zum Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe von den sozialstaatlichen Schutzmechanismen und hat Verelendung, Ausbeutbarkeit und Prekarisierung zur Folge. So wird eine neue migrantische Unterklasse geschaffen. Bundesregierung und Gesetzgeberin haben dafür seit Jahren durch eine systematische Verzahnung von Sozial- und Aufenthaltsrecht die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Diese Form von gezielter sozialer Entrechtung ist eines modernen sozialen Rechtsstaats unwürdig und gehört abgeschafft.
So haben EU-Bürger_innen oft keinen Anspruch auf Leistungen auf Hartz IV, wenn sie schon länger arbeitslos sind oder noch nicht gearbeitet haben. Diese Leistungsausschlüsse sind auf Betreiben der damaligen sozialdemokratischen Arbeitsministerin Andrea Nahles zuletzt im Jahr
2016 stark ausgeweitet worden. Ebenfalls auf Initiative eines Sozialdemokraten, Finanzminister Olaf Scholz, sind 2019 für viele EU-Bürger_innen die Ansprüche auf Kindergeld gestrichen worden. Und wenn sie doch Sozialhilfe oder Kindergeld beantragen, muss die Ausländerbehörde informiert werden – mit dem Ziel, ihnen dann das Aufenthaltsrecht zu entziehen.
Dasselbe gilt für Arbeitnehmer_innen aus Nicht-EU-Staaten: Wenn sie die Arbeit verlieren oder Leistungen beantragen, müssen Arbeitgeber_innen und Sozialbehörden unmittelbar das Ausländeramt informieren. Diese Denunziationspflichten sind im Jahr 2020 eingeführt worden. Die Leistungsausschlüsse, die für EU-Bürger_innen schon seit einigen Jahren in Kraft sind, dienen mittlerweile als Blaupause für andere
Migrant_innen: Seit 2019 sind auch Geflüchtete in bestimmten Fällen vollständig von Leistungen ausgeschlossen, wenn sie in einem anderen EU-Staat über ein Aufenthaltsrecht verfügen. Viele andere Menschen mit Fluchthintergrund unterliegen einem kaum noch zu durchdringenden Sanktionssystem, das Kürzungen um rund 50 Prozent vorsieht.
Ende März hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege die Ergebnisse einer Befragung veröffentlicht: Fast 400 Beratungsstellen aus allen Bundesländern haben darin über ihre Erfahrungen zum Umgang von Jobcentern und Familienkassen mit EU-Bürger_innen berichtet. Die Ergebnisse sind erschreckend: Jobcenter verweigern die Möglichkeit zur Antragstellung, indem sie die Betroffenen gar nicht erst in das Jobcenter einlassen oder aufgrund fehlender Sprachkenntnisse die Entgegennahme von Anträgen ablehnen. Gerade bei Personen im Niedriglohnbereich lehnen die Behörden ergänzende SGB-II-Leistungen ab.
Nach einem unfreiwilligen Verlust der Arbeit, während des Mutterschutzes oder der Elternzeit werden die Leistungen in vielen Fällen eingestellt; begonnene Sprachkurse können nicht fortgeführt werden können oder es droht Wohnungslosigkeit. Stark betroffen von rechtswidrigen Leistungsablehnungen sind Familien mit Kindern, in denen die Eltern unverheiratet zusammenleben.
Bei erwerbstätigen EU-Bürger_innen werden immer häufiger ergänzende Leistungen abgelehnt – vor allem, wenn sie in prekären, schlecht bezahlten Jobs arbeiten. Grund dafür ist eine unveröffentlichte Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit mit dem Titel „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“. Darin fordert die Behörde die Jobcenter-Mitarbeiter_innen auf, bei EU-Bürger_innen besonders streng zu prüfen, ob wirklich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Wenn Gehälter in bar ausgezahlt werden, der Arbeitgeber die Sozialabgaben nicht ordnungsgemäß abführt oder kein schriftlicher Arbeitsvertrag vorliegt, soll das Jobcenter im Zweifelsfall die Leistungen ablehnen, da im Rahmen eines Generalverdachts unterstellt wird, dass die Tätigkeit nur zum Schein ausgeübt werde. In einer früheren Fassung dieser Arbeitshilfe hat die Bundesagentur für Arbeit ungeschminkt auf den Punkt gebracht, auf welche Gruppen dies gemünzt ist: „Hier sind insbesondere rumänische und bulgarische Staatsangehörige zu nennen. Häufig gehören diese in ihrem Heimatland türkischsprachigen Minderheiten an. In Einzelfällen sind auch Italiener, Griechen, Polen und aus Marokko stammende Spanier bekannt geworden“, so die damalige Formulierung. Ist das Rassismus? Ja klar!
Gepaart mit einer großen Portion Nützlichkeitsideologie.
Die Verzahnung von Aufenthalts- und Sozialrecht, die Leistungsausschlüsse für nicht-deutsche Staatsangehörige führt zu einem effizienten System der Disziplinierung und sozialen Exklusion von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Die Nützlichkeitsideologie schlägt hier mit voller Brutalität durch. Ein modernes Einwanderungsland indes lässt sich nur realisieren, wenn der Nationalvorbehalt der Sozialleistungsansprüche konsequent aufgegeben und der sozialstaatliche Schutz vom aufenthaltsrechtlichen Status und der Staatsangehörigkeit entkoppelt wird. Soziale Rechte dürfen nicht vom Aufenthaltsstatus oder der Staatsangehörigkeit abhängig sein.