
„Wie winzige Arsendosen“ – Sprechen über Migration

Kommentar von Isabella Löhr, stellvertretende Direktorin des Centre Marc Bloch in Berlin
Seit einigen Jahren bewegt das Thema Migration die bundesdeutsche Gesellschaft. 2015 löste der so genannte „Sommer der Migration“ in Politik, Medien, Wissenschaft und Öffentlichkeit teils heftige Auseinandersetzungen über die Frage aus, inwieweit die grenzüberschreitende Bewegung von Menschen selbstverständlicher Teil des alltäglichen Geschehens ist oder, so die Gegenposition, ob Migration nicht eher als „Mutter aller Probleme“ (Horst Seehofer) gelten und deswegen weitestgehend beschnitten werden sollte. Diese Kontroversen haben die politische Tektonik der deutschen und europäischen Gesellschaften ins Rutschen gebracht und ihre politischen Landschaften nachhaltig verändert. Aber worüber sprechen wir eigentlich genau, wenn wir Worte wie „Migration“, „Integration“, „Ausländer“ oder „Migrationshintergrund“ verwenden? Wo kommen diese Begriffe her, was meinen sie und warum sind sie bisweilen weniger unschuldig, als es auf den ersten Blick erscheinen mag?
Das „Inventar der Migrationsbegriffe“, ein im Februar gestartetes Projekt an der Uni Osnabrück, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie migrationsbezogene Begriffe entstanden sind, wann, wo und von wem sie zum ersten Mal verwendet wurden, in welchen Kontexten und mit welchen Zielen. Es fragt nach der Bedeutung von Begriffen wie „Zweite Generation“ oder „Ghettoisierung“ und untersucht, wie sich ihre Bedeutungen über die Jahre verändert haben. Dahinter steht die in den Geistes- und Sozialwissenschaften fest etablierte Erkenntnis, dass Sprache eines der zentralen Instrumente ist, mit denen gesellschaftliche Wirklichkeit hervorgebracht wird. Denn mit der Sprache geben wir Phänomenen oder Ereignissen einen Namen, wir ordnen sie zeitlich, räumlich, politisch oder sozial ein und es ist die Sprache, mit der wir Dinge oder Menschen bewerten. Das gilt auch für alle Phänomene, die im weitesten Sinn mit der Bewegung von Menschen zu tun haben: Im Alltag scheint es selbstverständlich zu sein, dass und wie sich die „Flucht“ von der „Geschäftsreise“ oder der „Gastarbeiter“ von der „exilierten Wissenschaftlerin“ unterscheiden und warum das eine positiv, das andere eher negativ bewertet wird. Sprache spielt hier eine zentrale Rolle, weil sich in ihr Vorannahmen und Bewertungen verdichten, die in den Begriffen konzentriert zum Ausdruck kommen. Einmal ausgesprochen, entfalten sie ihre gesellschaftliche Wirkung. Victor Klemperer formulierte es so: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Die Autorinnen und Autoren des Inventars untersuchen, wie die Begriffe entstanden sind, mit denen im deutschsprachigen Raum über Migration gesprochen wird mit dem Ziel, die expliziten und impliziten Bedeutungsdimensionen dieser Begriffe offenzulegen. So wird es möglich, einen anderen Blick auf das Thema Migration zu entwickeln – weg von einer Wahrnehmung, die Migration, Flucht oder Asyl als etwas von außen kommendes, in der Tendenz destabilisierendes qualifiziert hin zu der Frage, was die Art und Weise, wie über Migration gesprochen wird, über die Gesellschaft, ihre Weltbilder, ihre Vorstellungen von Inklusion, Exklusion und Zugehörigkeit selbst aussagt. Auf diese Weise wird die Analyse der Begriffe, mit denen wir uns über die Bedeutung von Migration für eine Gesellschaft verständigen, zum Spiegel eben dieser Gesellschaften.
Das Inventar verfolgt drei Ziele: Es leistet einen Beitrag zu mehr sprachlicher Sensibilität in den aktuellen Auseinandersetzungen über Migration; es gibt einen Einblick in gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse, indem es die Begriffe und Wissensbestände untersucht, mit denen über die gesellschaftlichen Effekte von Mobilität und Diversität diskutiert und gestritten wird; und es möchte die Leser_innen dazu motivieren, sich informiert und reflektierend in Diskussionen über Migration einzumischen.
Das Inventar der Migrationsbegriffe
Entnommen aus Forum Migration März 2022