Aus den Projekten »Die brasilianische Gewerkschaftsbewegung befindet sich in einer Metamorphose«
Corona, ein rechtsradikaler Präsident, Zunahme an informeller Beschäftigung – Flávia Silva, die für das DGB Bildungswerk BUND in Brasilien arbeitet, erklärt, wie das die Arbeit der Gewerkschaften verändert
Nord | Süd news: Frau Silva, Sie sind Projektkoordinatorin des Regionalbüros des DGB-Bildungswerkes in São Paulo. Wie sieht Ihre Arbeit aus?
Flávia Silva: Wir koordinieren Projekte, die vom DGB-Bildungswerk unterstützt werden. In Brasilien unterstützen wir den Gewerkschaftsdachverband CUT bei seiner Jugendarbeit und die NGO Reporter Brasil, die gemeinsam mit der Kleinbauerngewerkschaft CONTAG und der Landarbeitergewerkschaft CONTAR für bessere Arbeitsbedingungen auf dem Land kämpft. Außerdem haben wir zwei weitere Projekte mit den regionalen Dachverbänden IndustriALL Global Union und Public Services International (PSI). In Kolumbien ist die Gewerkschaftsschule Escuela Nacional Sindical unser Partner.
Durch Corona steht Brasilien weitestgehend still. Wie hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert?
Wir arbeiten aus dem Home-Office. Die Arbeit unserer Projektpartner wurde erst einmal unterbrochen und viele Aktivitäten abgesagt. Derzeit wird diskutiert, wie die Arbeit wieder aufgenommen werden kann, und es wird geprüft, was auch virtuell möglich ist. Viele Partner haben sich bereits an die Pandemie angepasst: So wurden Debatten und Seminare ins Internet verlagert, die Gewerkschaftsschule in Kolumbien gibt viele Kurse nun online.
Mit Jair Bolsonaro ist ein neoliberaler Rechtsradikaler Präsident von Brasilien. Welche Gefahr geht von der Regierung für Ihre Arbeit aus?
Die Bolsonaro-Regierung ist eine Bedrohung für die Demokratie. Sie kriminalisiert die Arbeit der Zivilgesellschaft und von NGOs. Wir als internationale Organisation in Brasilien sind natürlich auch gefährdet. Es gibt auch immer wieder konkrete Schwierigkeiten, zum Beispiel wenn Banken keine Konten mehr für gewerkschaftliche Gruppen eröffnen wollen. Nach vielen Jahren der Fortschritte und sozialen Errungenschaften führen wir jetzt vor allem Abwehrkämpfe. Aber es ist wichtig zu betonen, dass die Rückschritte schon vor Bolsonaro losgingen.
Wann genau?
Seit dem Putsch (Amtsenthebungsverfahren der PT-Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016, Anm. d. Red.) gab es eine ganze Reihe von Angriffen auf die Arbeiter_innen. So wurde 2017 eine verheerende Arbeitsreform durchgebracht, die unter anderem zu einer finanziellen Schwächung der Gewerkschaften führte. Zudem wurde eine Schuldenbremse verabschiedet und das Outsourcing ausgeweitet. Kurz gesagt: Die neoliberale Politik hat fatale Auswirkungen für das Land. Außerdem verändert die technologische Entwicklung das Verständnis von Arbeit. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr als Arbeiter_innen, weil sie keine traditionellen Anstellungsverhältnisse haben.
Sie sprechen von Essenslieferant_innen und Uber-Fahrer_innen, den sogenannten Plattformarbeiter_innen.
Genau. Es wird verschleiert, für wen sie eigentlich arbeiten. Für die Gewerkschaften ist das eine Herausforderung und Anpassungen sind erforderlich. Unabhängig von den Gewerkschaften haben einige dieser Arbeiter_innen begonnen, sich zu organisieren. In São Paulo gibt es eine Gruppe von antifaschistischen Essenslieferanten, die auf Demonstrationen präsent ist. Das ist eine neue Form, wie sich die Arbeiterklasse organisiert. Am 1. Juli wird es einen nationalen Streik der Essenslieferanten geben. Meiner Meinung nach sollten die Gewerkschaften nicht versuchen, sich diese Bewegungen einzuverleiben, sondern sie erst einmal verstehen und sich mit ihnen solidarisch erklären.
In den letzten Wochen gab es Proteste gegen die Regierung – angeführt von Fußballfans. Gewerkschaften halten sich mit offenem Widerstand gegen die Regierung eher zurück. Warum?
Die Gewerkschaften stehen vor großen Herausforderungen. In Brasilien vertreten sie traditionell die formell beschäftigten Arbeiter_innen. Doch die informelle Arbeit steigt – nicht nur in der Plattformökonomie. Außerdem gibt es eine regelrechte Kampagne gegen gewerkschaftliches Engagement. Die Anerkennung von Gewerkschaften in der Gesellschaft ist derzeit sehr gering. Und natürlich machen sich auch die finanziellen Einbußen bemerkbar. Aber es stimmt, dass die Gewerkschaften derzeit sehr zurückhaltend sind. Viele Bürger_innen beginnen sich zu organisieren. Es gibt immer mehr soziale Bewegungen und unabhängige Kollektive. Die Gewerkschaften erhalten jedoch kaum Zulauf. Gerade Jugendliche fühlen sich durch die traditionellen Gewerkschaften kaum noch vertreten. Aber: Es wird gerade viel diskutiert, wie man sich an die neuen Begebenheiten anpassen kann. Und seit dem Amtsantritt Bolsonaros passieren auch positive Dinge. Die Gewerkschaftsbewegung, die in Brasilien viele unterschiedliche Strömungen hat, hat begonnen, wieder verstärkt miteinander zu kommunizieren und sich zu vernetzen. Am 1. Mai gab es zum Beispiel eine gemeinsame Artikulation der Gewerkschaftsdachverbände.
Sie sehen Hoffnung?
Die Gewerkschaftsbewegung steckt in einer Krise, aber sie ist nicht am Sterben. Sie befindet sich eher in einer Metamorphose. Die Geschichte wird von unseren Entscheidungen bestimmt. Natürlich kann das durch einen autoritären Prozess unterbrochen werden – wie es derzeit passiert. Genau deshalb ist unsere Arbeit im Moment so wichtig.
Interviewer: Niklas Franzen lebt als Korrespondent in Brasilien
Juni/2020