Kommentar: Klimanotstand - Nicht aussitzen, handeln!
17.12.2021 I Es ist höchste Zeit für einen »labour turn« in den ökologischen Bewegungen und einen »climate turn« von Gewerkschaften und anderen, fordert Klaus Dörre.
Es herrscht Klimanotstand. Stürme mit zuvor unbekannter Heftigkeit, Hitzewellen mit Rekordtemperaturen, Waldbrände an den Stadträndern vor Athen oder Flutkatastrophen wie die im idyllischen Ahrtal lassen keinen Zweifel – der menschengemachte Klimawandel verändert den Planeten. Wetterextreme nehmen zu, und sie fordern Menschenleben. »Die Welt steht am Abgrund«, erklärte UN-Generalsekretär Antonio Guterres am Vorabend der Klimakonferenz von Glasgow ungewohnt deutlich. Werden die Signale endlich gehört?
Zweifel sind angebracht. Im Ergebnis verlief Glasgow enttäuschend. Selbst wenn alle vereinbarten Maßnahmen umgesetzt würden, landeten wir bei einem Erderhitzungsszenario von deutlich mehr als zwei Grad, was heißt: Teile des Planeten würden unbewohnbar. Die neue Ampelkoalition hat zwar den Klimaschutz im Koalitionsvertrag großgeschrieben: Was geht, bestimmt allerdings die liberale Neinsager-Partei.
Der größte Schwachpunkt des Koalitionsvertrags ist indes, dass er das Problem der Klimagerechtigkeit dramatisch unterschätzt.
Marktmechanismen wie CO2-Preise und moderne Technologie sollen es richten. Das erinnert stark an den Solutionismus eines Bill Gates - oder eines Elon Musk, der sämtliche Weltprobleme, Klimawandel eingeschlossen, technologisch lösen will. Künftig fahren wir dann mit dem Elektroauto, verfügen über synthetische Kraftstoffe, essen aus Pflanzen hergestelltes Fleisch, bauen mit emissionsfreiem Zement, verarbeiten klimaneutralen Stahl, lassen die Welt aber im Großen und Ganzen so, wie sie ist. Das ist ein Wechsel auf die Zukunft, der sich nicht einlösen lässt, weil die systemischen Treiber des »Immer mehr und nie genug« - allen voran eine auf Wachstum, Marktexpansion und privaten Gewinn ausgerichtete Wirtschaft - fortbestehen.
Der größte Schwachpunkt des Koalitionsvertrags ist indes, dass er das Problem der Klimagerechtigkeit dramatisch unterschätzt. Die Emissionsreduktionen, die es in Deutschland und EU-Europa seit 1990 gegeben hat, sind in erster Linie ein Verdienst einkommensschwächerer Haushalte. Während die Emissionen des reichsten ein Prozents der Weltbevölkerung zwischen 1990 und 2015 um fünf Prozent und die des einkommensstärksten Dezils um drei Prozent gestiegen sind, haben sie bei der ärmeren Hälfte um 34 Prozent und bei den Haushalten mit mittleren Einkommen im gleichen Zeitraum um 13 Prozent abgenommen.
Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass die Produktion von Luxusartikeln für die oberen Klassen und deren Konsum durch begüterte Haushalte zu einer Haupttriebkraft eines Klimawandels geworden sind, unter dessen Folgen national wie global vor allem die ärmeren, sozial besonders verwundbaren Bevölkerungsgruppen zu leiden haben. Nur weil Personen mit »kleinen Geldbörsen« ihren Gürtel wegen sinkender Einkommen und steigender Preise enger schnallen müssen, sind die verschwenderischen Lebensstile der oberen Klassen überhaupt noch möglich. Denen unten darf aber nicht abverlangt werden, was man denen oben nicht zumuten will. Ein Energiegeld, wie es der Koalitionsvertrag in vagen Formulierungen verspricht, wird daran allein wenig ändern.
Denen unten darf aber nicht abverlangt werden, was man denen oben nicht zumuten will.
Die Alternative ist ein Klimaschutz für die 99 Prozent, der ökologische und soziale Nachhaltigkeitsziele gleich gewichtet. Dass die überfällige Nachhaltigkeitsrevolution mittels Konservierung jener expansiven Profitwirtschaft gelingen kann, die den Klimanotstand überhaupt erst herbeigeführt hat, ist hochgradig unwahrscheinlich. Zu Recht fordern die Klimabewegungen deshalb »System change, not climate change«. Denn die »kapitalistische Produktion kann nicht stabil werden, sie muss wachsen und sich ausdehnen oder sie muss sterben«, wusste schon Friedrich Engels.
Aktuell kommt es freilich darauf an, auch jene Handlungsspielräume optimal zu nutzen, die kapitalistische Marktwirtschaften bieten. Neue Allianzen aus Gewerkschaften, Umweltverbänden und Klimabewegungen sind dafür unabdingbar. Dazu braucht es nicht weniger als einen »labour turn« in den ökologischen Bewegungen und einen »climate turn« von Gewerkschaften, Sozialverbänden und anderen Akteur_innen, die vornehmlich die soziale Frage bearbeiten.
Wie das gehen kann, hat die zurückliegende Tarifrunde im Öffentlichen Personennahverkehr gezeigt. In mehr als 25 Städten von Fridays for Future unterstützt, hatte die Gewerkschaft ver.di die Tarifrunde bewusst als Beitrag zum Klimaschutz angelegt. Ein zartes Pflänzchen, das jedoch zeigt, was nötig ist. Alle progressiven Akteur_innen müssen Differenzen hintanstellen und ihre Gemeinsamkeiten betonen, um von unten zu erzwingen, was so dringend benötigt wird: eine radikale Transformation hin zu nachhaltigen Gesellschaften, die das Leben aller, das künftiger Generationen eingeschlossen, besser macht.
Der Autor: Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Er forscht seit vielen Jahren zu Gewerkschaften.