
Kommentar von Tim Noonan: Wir brauchen einen neuen Sozialvertrag
Die Regierungen waren unvorbereitet auf eine Krise wie die Covid-19-Pandemie. Damit das nicht wieder passiert, brauchen wir eine weltweite Einigung darüber, mehr Resilienz herzustellen. Dazu gehören grundlegende Rechte und der Schutz aller arbeitenden Menschen.
Die Covid-19-Krise hat eklatante Versäumnisse der nationalen und internationalen Ordnungssysteme aufgedeckt. Jahrelang hatten die Regierungen alle Warnungen der Wissenschaft ignoriert, dass solche Pandemien möglich und wahrscheinlich seien. So waren sie nicht vorbereitet, als das neuartige Coronavirus sich auszubreiten begann.
Hunderte Millionen Arbeitsplätze und die Existenzgrundlagen von mehr als 1,5 Milliarden informell Beschäftigten sind bereits verloren gegangen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen treffen unverhältnismäßig viele Frauen, Migrant_innen und andere diskriminierte Gruppen. Für eine ganze Generation junger Menschen haben sich die Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie die Aussichten auf gute Arbeit in der Zukunft verschlechtert.
Das Virus hat eine Welt getroffen, in der soziale, ökologische und wirtschaftliche Risse bereits offensichtlich waren, und diese Risse haben sich vertieft – mit schwerwiegenden Folgen vor allem für die Ärmsten und die am meisten Ausgegrenzten. Die jüngste Umfrage des Internationalen Gewerkschaftsbunds zeichnet das Bild einer prekären Welt, in der die Menschen voller Angst um ihre Arbeitsplätze sind und kein Vertrauen in die Regierungen haben. Zugleich zeigt der diesjährige Globale Rechtsindex des IGB, dass weltweit der Trend anhält, die Rechte und andere Freiheiten arbeitender Menschen zu beschneiden.
Angesichts all dieser Faktoren sieht es aus, als sei die Welt unfähig, die Ausbreitung der Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Erholung von den Covid-19-Folgen kann nur funktionieren, wenn die politischen Unterstützungsmaßnahmen darauf abzielen, zugleich die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Menschenwürdige Arbeitsplätze müssen geschaffen und erhalten, wirtschaftliche Sicherheit für arbeitende Menschen muss gewährleistet werden.
Dafür braucht es einen neuen Sozialvertrag – auf der Grundlage eines Mindestmaßes an Sozialschutz, wie es die Internationale Arbeitskonferenz im vergangenen Jahr in ihrer Jahrhunderterklärung versprochen hat. Zu den zentralen Elementen gehören grundlegende Rechte für alle arbeitenden Menschen, Obergrenzen für die Arbeitszeit, ein angemessener Mindestlohn und Arbeitsschutz. All diese Rechte, die Verfügbarkeit aller grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen und gerechte Übergänge mit Blick auf den Klima- und Technologiewandel, die Arbeitsplätze und lebenslanges Lernen gewährleisten, werden für die Resilienz sorgen, die die Welt braucht.
Daneben sagen die Unterzeichner der Erklärung zu, Maßnahmen zu ergreifen, die weitere Schlüsselelemente eines neuen Sozialvertrags betreffen. Dazu gehören Geschlechtergleichstellung, die Formalisierung informeller Tätigkeiten, Jugendbeschäftigung, menschenwürdige Arbeit in Lieferketten und sozialer Dialog. Ganz oben auf der Prioritätenliste des IGB steht der Arbeitsschutz, wobei es aktuell vor allem darum geht, die Übertragung des Virus am Arbeitsplatz zu verhindern. Wir bemühen uns darum, Widerstände von Arbeitgebern und einigen Regierungen gegen die Anerkennung des Arbeitsschutzes bei der ILO als grundlegendes Recht auszuräumen.
Die Regierungen müssen Arbeitnehmer_innen, die Einkommensverluste erlitten haben, weiter finanziell unterstützen und in Arbeitsplätze im Gesundheitswesen und in der Pflege, in das Bildungssystem, die Infrastruktur und die Industriepolitik investieren. Sie müssen auf internationaler Ebene globale Standards für die Sorgfaltspflicht entlang von Lieferketten festlegen und einen globalen Sozialschutzfonds einrichten, vor allem für die ärmsten Länder. Unerlässlich ist auch die Reform des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.
Nur auf diesem Weg gibt es eine Aussicht, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen doch noch zu erreichen. Der Wissenschaft kommt eine entscheidende Rolle bei der Pandemiebekämpfung zu, nur sie kann Behandlungsmethoden, Impfstoffe und Antigen-Schnelltests entwickeln. Allein kann sie es aber nicht richten. Soziale und wirtschaftliche Maßnahmen im Rahmen eines neuen Sozialvertrages sind unverzichtbar.
Billionen Euro wurden mobilisiert, um die erste Welle der Pandemie zu bewältigen. Mehr Geld ist nötig. In den letzten Monaten haben Unternehmen in der Technologiebranche und in einigen anderen Sektoren gigantische Profite eingefahren, mehr als 20 Billionen Euro sind in Steueroasen versteckt. Eine weltweite Steuerreform muss dafür sorgen, dass diese Potenziale gehoben werden und die Erholung nicht mit Sparmaßnahmen finanziert wird. An Geld fehlt es nicht in der Welt, und dieses Geld muss in den Dienst der Menschen gestellt werden.
Autor: Tim Noonan ist Kommunikationsdirektor des Internationalen Gewerkschaftsbundes
Dezember 2020