Pandemie entlarvt Wirtschaftssystem
Lohnersatz für Haushalte an der Armutsgrenze, Schuldenerlass für zahlungsunfähige Staaten, Entkriminalisierung informeller Arbeit, neue Regeln für Unternehmen mit internationalen Lieferketten: Was sich in der Corona-Krise weltweit tun muss.
In der Erzählung »Des Kaisers neue Kleider« ist es ein Kind, das dem Herrscher und seinem Hofstaat klarmacht, dass sie nicht unsichtbare Kleider tragen – sondern gar keine. In der Realität von 2020 ist es ein Virus, das die Welt nackt dastehen lässt. »Die Covid-19-Pandemie hat auf brutale Weise die Schwächen und Fehler des globalen Wirtschaftsmodells aufgedeckt«, sagt der Sprecher des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) Tim Noonan.
Sehr viel deutlicher wird in diesem Zusammenhang ein Aufruf internationaler Frauenorganisationen, den auch der globale Gewerkschaftsverband, Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD/PSI) unterzeichnet hat: »Das neoliberale System hat zwei Generationen junger Menschen des vollen Genusses ihrer sozialen, wirtschaftlichen, politischen und bürgerlichen Rechte beraubt, einschließlich ihres Rechts auf ein gesundes Leben auf einem gesunden Planeten. In kritischer Weise hat der Neoliberalismus die Staaten und ihre Fähigkeit ausgehöhlt, ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachzukommen und auf Krisen und Katastrophen zu reagieren.«
Der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zufolge kostet die Corona-Krise weltweit Hunderte Millionen Arbeitsplätze. Geschätzt 1,6 Milliarden Existenzen in der informellen Wirtschaft werden vernichtet. »Ohne alternative Einkommensquellen werden diese Menschen und ihre Familien keine Überlebensmöglichkeiten haben«, heißt es bei der ILO. Denn laut UNO hat deutlich mehr als die Hälfte der Menschen weltweit keine soziale Absicherung. Die gesundheitliche Krise ist zu einer Krise des wirtschaftlichen und sozialen Systems geworden.
Angesichts dieser Dimension fordert der IGB ein grundlegendes Umsteuern. »Ein neuer sozialer Kontrakt ist unerlässlich, um die Welt wieder auf einen nachhaltigen und gerechten Weg zu bringen«, schrieb Sharan Burrow, Generalsekretärin des IGB, bereits Mitte März. Dieser Vertrag müsse – zusätzlich zu lebenswichtigen öffentlichen Dienstleistungen und Umwelt- und Sicherheitsmaßnahmen – auch den Arbeitsschutz weltweit mit einschließen.
»Vor der Corona-Krise war die Situation schon dramatisch. Die Pandemie verdeutlicht noch einmal die Finanzierungslücke, da wird es sehr schwer sein, Gesellschaften ökologisch und sozial gerecht umzubauen«, fürchtet Elisabeth Bollrich von der Friedrich Ebert Stiftung (FES). Hinzu kommt laut Bollrich die unterschiedliche Betroffenheit der Weltökonomien. Während die Länder des Globalen Südens vor einer massiven Armutskrise stehen, sind die Schwellenländer durch ihre starke Verflechtung mit den reichen Ländern abhängig von deren wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit und somit in Wellen der Pandemie ausgeliefert. Da braucht es schon einen ganzen Mix an Maßnahmen, um die Krise nachhaltig, und das nicht nur im Sinne der Umwelt, zu meistern.
Zu den finanziellen Maßnahmen gehört laut Bollrich für die armen Länder erst einmal »akute Notlinderung«. »Viele Entwicklungsländer werden durch die Pandemie in ihrer Entwicklung um zehn Jahre zurückgeworfen.« Der Einbruch der informellen Wirtschaft macht Lohnersatzleistungen für Haushalte an der Armutsgrenze notwendig. Länder wie Indien, Burkina Faso, Kolumbien, Kenia und El Salvador haben bereits Cash-Transfer-Programme aufgelegt oder aber ausgebaut. Die zwanzig führenden Wirtschaftsnationen haben für die 77 ärmsten Länder ein Schuldenmoratorium für das laufende Jahr beschlossen. Aus Sicht der Friedrich-Ebert-Stiftung genügt dies nicht. »Was wir brauchen, ist eine Neubewertung von Schulden und ein Erlass für zahlungsunfähige Staaten«, sagt Bollrich. Eine Forderung, die der IGB als »Teil der Lösung« unterstützt. Ein Aufruf, den die Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) unterzeichnet hat, fordert darüber hinaus von den Regierungen, dass sie »die Marginalisierung und Kriminalisierung der informellen Arbeiterinnen und Arbeiter beenden und stattdessen ihre entscheidende Rolle in der Wirtschaft anerkennen, fördern und wertschätzen.«
Mit Blick auf die Schwellenländer schlägt Tim Noonan vom IGB vor, »dass Unternehmen mit internationalen Lieferketten Liquiditätsreserven halten müssen, so wie es die Banken nach der globalen Finanzkrise tun mussten, und dass sie bei Störungen verpflichtet werden sollen, Verträge einzuhalten, anstatt Lieferanten einfach fallen zu lassen, wie es viele Unternehmen nach Ausbruch der Pandemie taten.« Neue Regeln müssten weltweit dafür sorgen, dass Arbeitnehmende einen gerechten Anteil an dem von ihnen produzierten Wohlstand erhalten und dass die Unternehmen in den Ländern, in denen sie Gewinne erzielen, Steuern zahlen. Der Finanzfluss multinationaler Unternehmen müsse dringend geregelt werden, sagt Bollrich. »Die nationalen Steuersysteme greifen längst nicht mehr, da wird viel Geld hin- und hergeschoben, um Steuerzahlungen zu vermeiden.«
Doch wie die globale Wirtschaft substanziell umbauen, dass sie zukunftsfähig aus dieser Krise hervorgeht? Das Rezept, auf das Gewerkschaften bereits vor der Krise verwiesen, lautet »Just Transition«, die sozial gerechte und zugleich ökologische Transformation der Wirtschaft. So formulieren die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO ein Rahmenwerk zum Umbau der Weltgesellschaft. Von der Abschaffung der Armut, über menschenwürdige Arbeit, nachhaltigen Konsum und nachhaltiges Wirtschaften, bis hin zu Klimaschutz und Geschlechtergerechtigkeit benennt die UNO nicht nur Ziele, sondern identifiziert auch Zielkonflikte, etwa zwischen Arbeitsplätzen und Umweltschutz.
Die ILO-Kernarbeitsnorm, ein Lieferkettengesetz, letztlich die Menschenrechte – die Ideen für eine sozialere und umweltfreundlichere Welt seien längst auf dem Tisch, sagt Bollrich. »Es gibt viele sehr gute internationale Abkommen, wir erleben aber in den letzten Jahren, dass diese Übereinkünfte zunehmend aufgekündigt, umgangen oder gar nicht erst umgesetzt werden.«
Zumindest manch reicher Staat wagt in der Krise einen Schritt nach vorn. So lobt der DGB ausdrücklich das Konjunkturprogramm, das die deutsche Regierung jüngst zur Abfederung der Corona-Krise auf den Weg gebracht hat – inklusive Kinderbonus, Rettung des Öffentlichen Personennahverkehrs, Anreizen zum Aufbau einer klimafreundlichen Autoindustrie sowie Energiegewinnung. Und auch der geplante »Green Deal« der Europäischen Kommission könne sich in diesem Sinne sehen lassen, meint Bollrich von der FES. Die Krise als Chance.
Autorin: Uta von Schrenk ist freie Journalistin in Berlin und beschäftigt sich seit Jahren mit gewerkschaftlichen Themen
Juni 2020