
Gutes Wohnen - Nicht nur für Reiche
Luxuswohnungen entstehen, Arme werden verdrängt – der Anteil der Menschen, die in informellen Siedlungen wohnen, wächst neuerdings wieder. Was lässt sich tun? Die Europäische Bürgerinitiative »Housing for all«, an der sich auch der DGB beteiligt, hat erste Erfolge.
Im kolumbianischen Bogota waren es 191, in Rio de Janeiro 180 und in München immerhin 87 Stunden im Jahr: Auf der ganzen Welt verloren Berufspendler_innen laut Verkehrsdatenanbieter Irix 2019 zusammengerechnet viele Tage oder wie in Bogota sogar mehr als eine Woche im Stau. Nach dem Ende der Corona-Krise wird sich das wiederholen. Denn Millionen von Beschäftigten sind dazu gezwun-gen, lange Strecken auf verstopften Straßen mit dem Auto oder in völlig überfüllten Bussen und Bahnen bei schlechten Verbindungen zur Arbeit zu fahren, weil eine Wohnung in der Nähe des Jobs zu teuer ist.
Wohnungsnot ist ein weltweites Problem. Dabei ist das Recht auf Wohnen ein Menschenrecht, festgeschrieben in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Sozialpakt der Vereinten Nationen.
Die Ballungszentren auf der ganzen Welt wachsen schneller als angemessener Wohnraum für Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen geschaffen wird. 2015 leben mit knapp 4 Milliarden Menschen 54 Prozent der Weltbevölke-rung in Städten, im Jahr 2030 werden es nach Schätzungen der Vereinten Nationen, UN, 5 Milliarden sein.
Den UN zufolge leben heute rund 1 Milliarde Menschen in äußerst prekären Verhältnissen in einem der weltweit 200.000 Slums. Für Reiche dagegen gibt es guten Wohnraum – der nicht selten wie in der kambodschanischen Stadt Phnom Penh auf Kosten der Ärmsten entsteht. Dort wurde die Fischersiedlung Tonle Basac gewaltsam geräumt, um auf dem Gelände die »Elite Town« zu errichten. Früher lebten hier Menschen mit geringem Einkommen. »Sie wurden vertrieben«, berichtet Roman Herre, Agrarexperte der Menschenrechtsorganisation FIAN.
Die Militärpolizei nahm die Bewohner_innen fest und transportierte sie an den Stadtrand, wo Armeefahrzeuge sie vor einer neuen Textilfabrik ausspuckten. Die informelle Siedlung, in der sie nun leben, hat keine soziale und technische Infrastruktur, bei Regen werden die Behausungen überschwemmt. Wie in Phnom Penh sind in informellen Siedlungen Unterkünfte in der Regel aus einfachen Materialien. »Direkt daneben lebt der Nachbar, vielleicht durch eine Plastikplane getrennt, vielleicht auch nicht«, berichtet Herre.
Die sanitäre Lage ist katastrophal, auch ohne die Corona-Krise sind Krankheiten ein großes Problem. Stirbt im Slum von Phnom Penh beispielsweise jemand an Cholera, stellen die Hinterbliebenen zur Warnung eine Puppe auf. »Corona breitet sich unter solchen Umständen völlig ungebremst und unkontrolliert aus«, sagt Herre. Abstand zu halten, ist kaum möglich. Wie das wirkliche Ausmaß der Infektionsausbreitung ist, wird unklar bleiben, fürchtet er. »In solchen Siedlungen wird es nur wenige Tests geben.«
Zwischen 2000 und 2014 ist der Anteil der in informellen Siedlungen lebenden Menschen an der Weltbevölkerung von 28 auf 23 Prozent gesunken. Doch 2018 kam die Trendwende, laut UN stieg der Anteil wieder. Eine der Ursachen: Landgrabbing, die Aneignung von Flächen durch Investoren. »Menschen verlieren den Zugang zu Land und Wasser und versuchen ihr Glück als Taxifahrer oder Kleinhändler in den Städten«, sagt Herre.
Beschleunigt wurde das nach der Finanzkrise. Seitdem stecken Investoren wie internationale Fonds oder Pensionskassen nicht nur viel Geld in Immobilien und treiben die Preise nach oben, sie legen auch massiv Geld im Agrarsektor an. Allein in Paraguay sind in den vergangenen 15 Jahren 5 Millionen Hektar Land in den Besitz von Großinvestoren gelangt. Mehr als 80 Prozent der Kleinbauern dort haben weniger als 20 Hektar Land, viele nur 5 Hektar oder weniger. Das Ärzteversorgungswerk Westfalen-Lippe etwa hat sich an einem Fonds beteiligt, der in Brasilien 133.000 Hektar Land gekauft hat, auf dem jetzt Soja für Tierfutter angebaut wird.
FIAN drängt darauf, dass bei den Regeln für Geldanlagen die Einhaltung von Menschenrechten vorgeschrieben wird, damit Landbewohner_innen nicht vertrieben werden. »Der Staat muss regulierend eingreifen«, fordert Herre. Auch die Umverteilung von Land müsse wieder Eingang in die entwicklungspolitische Diskussion finden. Noch vor 15 Jahren sei das für die Bundesregierung ein Thema gewesen, sagt Herre. Heute begleite die Regierung bei ihren entwicklungspolitischen Aktivitäten vor allem Großinitiativen. »Kleinbauern werden diskriminiert«, sagt er. Statt lokale Kreisläufe zu unterstützen, gehe es darum, auf den Weltmärkten bestehen zu können. »Wir brauchen Alternativen«, sagt Herre. Statt Mega-Plantagen mit 50 Hektar zu errichten, auf denen eine Person unter prekären Bedingungen arbeite, könnten auf einer solchen Fläche 50 Familien ihr Auskommen finden.
Auch in Europa ist Wohnungsnot ein Problem, wie Millionen Obdachlose zeigen. Für Geringverdienende sind hohe Mieten eine existenzielle Bedrohung. Mehr als 50 Millionen Menschen in Europa zahlen über 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen. Unter Beteiligung des DGB hat sich im vergangenen Jahr die Europäische Bürgerinitiative »Housing for all« gegründet, die europaweite Maßnahmen für günstigen Wohnraum fordert, etwa dass gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften von der Europäischen Investitionsbank bessere Konditionen bekommen und digitale Vermittler wie AirBnB dem Mietmarkt keine Angebote mehr entziehen können.
»Die Folgen einer Wohnungspolitik, die jahrelang unter einem Spardiktat lief und auf Investitionen verzichtet hat, sehen wir aktuell in Deutschland«, sagt Stefan Körzell, Mitglied des geschäftsführenden Bundesvorstands des DGB. Die Zahl der Sozialwohnungen sank in den vergangenen 30 Jahren von 3 Millionen auf 1,2 Millionen. Statt bislang rund 27.000 neue Sozialwohnungen jährlich müssten nach Auffassung der Initiator_innen 100.000 pro Jahr entstehen. Europa und Deutschland bräuchten eine Investitionsoffensive für den Wohnungsbau, fordert Körzell. »Eine europäische Investitionsoffensive für den sozialen Wohnungsbau kann einen wichtigen Beitrag dafür leisten, das soziale Gesicht Europas zu stärken.«
Ziel der Kampagne war, eine Million Unterschriften zu sammeln, damit sich die EU-Kommission und das EU-Parlament mit den Forderungen auseinandersetzen. Die Sammlung ist nach dem Brexit gestoppt worden. Aus Sicht der Initiator_innen war die Kampagne dennoch erfolgreich, denn das EU-Parlament hat das Anlie-gen aufgegriffen. »Im Dezember 2019 hatten wir die Gelegenheit, Housing for All auf einer Veranstaltung im EU-Parlament vorzustellen, die auf Initiative der Abgeordneten initiiert wurde«, sagt Karin Zauner-Lohmeyer, Sprecherin der Initiative. Das EU-Parlament hat inzwischen einen Antrag mit dem Titel »Zugang zu angemessenem und erschwinglichem Wohnraum für alle« auf den Weg gebracht.
Außerdem arbeitet die Initiative mit Leilani Farha zusammen, der UN-Sonderberichterstatterin für das Menschenrecht auf Wohnraum. Die Vereinten Nationen haben mit der Agenda 2030 das Recht auf Wohnen zu einem ihrer Nachhaltigkeitsziele erklärt. Bis 2030 soll für alle Menschen – im Norden wie im Süden – der Zugang zu angemessenen und bezahlbaren Wohnungen gesichert sein.
Die Autorin Anja Krüger lebt als Journalistin in Berlin und beschäftigt sich viel mit Gewerkschaftspolitik.
April 2020