Lieferketten: Fleischindustrie »Traumatisch« – Die Schlachtbank der Welt
Brasilien ist weltweit der größte Exporteur von Fleisch. 500.000 Arbeitnehmende schuften in der Megaindustrie. Nascimento Rodrigues kämpft heute als Gewerkschafter für sie. Einst hat er selbst blutverschmierte Böden geschrubbt und Kolleg_innen gesehen, die sich Finger abhakten oder in Depression verfielen.
Nicht nur Tiere würden in den Fleischfabriken Brasiliens geschlachtet werden, sondern auch Menschen. Das sagt ein Mann, der jahrelang selbst in Schlachthöfen schuftete: Wagner do Nascimento Rodrigues. Der 37-Jährige aus dem südlichen Bundesstaat Paraná schrubbte vor zehn Jahren blutverschmierte Böden, reinigte Hackmesser, zerkleinerte Knochen. Seine Erfahrung fasst er mit einem Wort zusammen: »Traumatisch.«
Brasilien ist der weltgrößte Exporteur von Rindfleisch und Geflügel. Brasilianisches Fleisch landet in deutschen Supermärkten, chinesischen Fast-Food-Restaurants, bei saudi-arabischen Großhändlern. Mehr als 500.000 Brasilianer_innen arbeiten in der Industrie, die von den drei Riesen JBS, BRF und Mafrig dominiert wird.
Die Schattenseiten der Megaindustrie kennt Rodrigues gut. »Ich habe die Probleme mit eigenen Augen gesehen.« Im Akkord müssen die Arbeiter_innen stundenlang die gleiche Tätigkeit ausführen. Rodrigues sah, wie sich Kolleg_innen Finger abhakten, vor Anstrengung weinten und aufgrund der monotonen Arbeit in schwere Depressionen verfielen. Heute kämpft Rodrigues als Gewerkschafter in der ländlichen Region Carambeí für seine ehemaligen Kolleg_innen.
Im Jahr 2013 verabschiedete die Regierung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT ein Gesetz, das von den Gewerkschaften immer noch als Meilenstein gefeiert wird. Schutzmaßnahmen wurden festgeschrieben, Pausen verlängert, Inspektor_innen kontrollieren nun häufiger die Schlachthöfe. Eine breite Koalition aus Gewerkschaften, NROs und linken Politiker_innen hatte lange für das Gesetz mobilisiert. »Die Fleischindustrie war um ihr Image besorgt und hat deshalb den Reformen zugestimmt«, meint Rodrigues. »Ohne Druck hätte sich nichts verändert.«
Dennoch: Die Bezahlung ist weiterhin sehr gering und die Firmen haben erneut den Arbeitsrhythmus erhöht. Das heißt: noch weniger Zeit, um Hähnchen zu entbeinen oder Rinder zu zerlegen. Gerade in kleineren Betrieben, erklärt Rodrigues, sei die Situation oft noch so, wie er sie damals erlebt hat. Auch regionale Unterschiede machten sich bemerkbar. Während es im Norden des Landes kaum Fortschritte gab, habe sich die Situation im Süden, wo die Gewerkschaften stark sind, deutlich verbessert.
Viele Fortschritte stehen nun jedoch auf dem Spiel. Mit Jair Bolsonaro ist ein ultraliberaler Rechtsextremist Präsident des größten Landes Lateinamerikas. Einmal erklärte er, dass sich die Arbeiter_innen entscheiden müssten: Arbeit oder Rechte. Als einer der ersten Akte löste Bolsonaro das Arbeitsministerium auf. Zudem setzte seine Regierung »einen Angriff auf die Gewerkschaften« in Gang.
Neben der neoliberalen Politik der Bolsonaro-Regierung macht nun auch die Corona-Pandemie vielen Arbeiter_innen zu schaffen. Ende September stand eine Gruppe mit weißen Schutzanzügen und Hähnchenkostümen vor der Börse in São Paulo. Der Protest war Teil der Kampagne »Das billigste Fleisch ist das Fleisch der Arbeiter«, organisiert von Lebensmittelgewerkschaften. Die Gruppe wollte mit ihrem Protest den Umgang vieler Betriebe während der Pandemie anklagen. Das Virus kann sich in den engen Schlachthöfen besonders gut ausbreiten, viele Arbeiter_innen haben aufgrund der Arbeit in den unterkühlten, oft dunkeln Hallen ein schlechtes Immunsystem. Laut Presseberichten war in einigen Bundesstaaten zwischenzeitlich ein Viertel der Belegschaften mit Covid-19 infiziert. Mehrere Fabriken mussten zeitweilig schließen.
Besonders ein Unternehmen steht in der Kritik: JBS. Das börsennotierte Unternehmen mit Sitz in São Paulo ist der größte Fleischproduzent und der zweitgrößte Lebensmittelkonzern der Welt. Während der Pandemie konnte das Unternehmen Renditen von 55 Prozent verzeichnen. Das hielt das Management nicht davon ab, in vielen Betrieben die Schutz- und Hygienemaßnahmen schleifen zu lassen und oft noch nicht einmal täglich neue Schutzmasken zur Verfügung zu stellen.
Druck bekommen die Fleischkonzerne auch zunehmend aus dem Ausland. Mit ihrem Hunger nach Anbauflächen ist die Industrie nämlich für die zunehmende Entwaldung im Amazonasgebiet mitverantwortlich. Mehrere Länder hatten unlängst angedroht, brasilianische Produkte zu boykottieren. Rodrigues hält von solchen Forderungen gar nichts. »Wenn wir nicht mehr exportieren, müssen die Fabriken schließen. Das hätte fatale Konsequenzen für die Arbeiter hier.« Ja, Druck solle hergestellt werden. Aber Märkte zu schließen, sei der falsche Weg. Ein Gütesiegel könne helfen, meint der Gewerkschafter. Denn: Fair produziertes, umweltverträgliches Fleisch ist möglich.
Autor: Niklas Franzen beschäftigt sich als Journalist mit Brasilien, er hat mehrere Jahre in São Paulo gelebt
Dezember 2020