„Wie beim Weltuntergang“: Feuerkatastrophe in indigenen Gebieten in Brasilien
26.02.2021 I Der Bundesstaat Mato Grosso ist am stärksten von den Waldbränden 2020 betroffen. Die Brände nahmen um 1300 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Indigene beklagen mangelnde Mittel zur Brandbekämpfung und Expert_innen werfen der Indigenenbehörde Funai Untätigkeit vor.
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil.
Das eine Gebiet befindet sich in Amazonien, das andere im Cerrado - dem Savannengebiet in Südost-Brasilien. Ein Gebiet leidet unter illegalem Bergbau, das andere unter Holzfällern. Ein Gebiet liegt in der Nähe der Stadt, das andere abgeschieden im Regenwald. Trotz vieler Unterschiede zwischen den zehn indigenen Gebieten mit den meisten Bränden 2020 ähneln sich die Stellungnahmen ihrer Anführer_innen. Sie handeln von Verzweiflung über das Ausmaß des Feuers und die Untätigkeit der Indigenenbehörde Funai. Eine Aussage, die man immer wieder hört: „So etwas habe ich noch nie gesehen“.
Eine exklusive Recherche, die von der Organisation Global Forest Watch im Auftrag von Repórter Brasil durchgeführt wurde, zeigt: Die indigenen Gebiete wurden zwischen Anfang 2020 und dem 29. Oktober 2020 von mehr als 115.000 Brandherden schwer verwüstet. Satellitendaten zeigen, dass sich die am stärksten betroffenen Gebiete in Xingu im Bundesstaat Mato Grosso, im Parque do Araguaia im Bundesstaat Tocantins und in Kayapó im Bundesstaat Pará befinden. Von den mehr als 724 indigenen Gebieten, die in der Recherche berücksichtigt wurden, haben bereits 448 in diesem Jahr Brände registriert. Die Ergebnisse stützen sich auf Daten der US-Raumfahrtbehörde Nasa, die auf der Plattform der Global Forest Watch verfügbar sind.
Das indigene Gebiet mit den meisten Bränden ist der Parque do Xingu im zentral gelegenen Bundesstaat Mato Grosso. Dort wurden 10.502 Brandherde registriert. In dem Territorium leben 16 verschiedene indigene Gruppen in 500 Dörfern. Es ist schwer zu sagen, was am meisten schockiert. Ist es die Zunahme der registrierten Brände um 251 Prozent im Vergleich zum Vorjahr? Sind es die Bilder der Flammen, die das Territorium verschlingen? Oder sind es emotionale Appelle, wie die von der indigenen Anführerin Watatakalu Yawalapiti? Während eines Live-Videos sagte sie: „Unsere Realität ist überhaupt nicht gut. Wir haben viele Anführer verloren und unsere Leute sterben [an Covid-19]. Und nun, um die Sache noch schlimmer zu machen, brennen unser Häuser, unsere Apotheke und unser Supermarkt.“
Allein das kleine Indigenen-Gebiet Pequizal do Naruvotu im Bundesstaat Mato Grosso wurde von 160 Brandherden heimgesucht. Die obige Auflistung zeigt, wie viele Brandherde in den am meisten zerstörten Indigenen-Gebieten bis Ende Oktober 2020 verzeichnet wurden.
Noch nicht einmal Schläuche
Das Team aus 60 Xingu-Feuerwehrleuten schafft es nicht mehr, den Bränden hinterherzukommen. Es sind zu viele Brandherde und es fehlen schlicht die Mittel. Laut Takumã Kuikuro, der eine Spendenkampagne organisiert, mangele es an den banalsten Dingen wie Schutzkleidung, Transportmittel und sogar Schläuchen, um Wasser aus dem Fluss zu pumpen. Mit Eimern und Wannen werde nun Wasser transportiert. „Drei Jahre lang haben wir Feuerwehrleute ausgebildet. Aber in diesem Jahr springen viele Brände von den Gebieten der Farmen über. Die Farmer legen Feuer, um ihr Territorium zu vergrößern. Es brennt einfach zu viel für unser kleines Team“, sagt Kuikuro. „Neulich war hier alles grau, man sah nur noch Rauch. Es fühlte sich wie der Weltuntergang an.“
Im indigenen Gebiet Parque do Araguaia im Bundesstaat Tocantins wurden mit 8.792 Brandherden die zweitmeisten Brände registriert. „Dieses Jahr ist alles außer Kontrolle geraten. Es fällt sehr schwer zu atmen und wir wissen nicht einmal, woher das Feuer kam oder wie es entstanden ist“, sagt Eliana Karajá, Koordinatorin der Indigenen-Assoziation des Vale do Araguaia.
Das Feuer kommt den indigenen Dörfern immer näher und zwingt die Bewohner_innen, ihre Häuser zu verlassen. Außerdem drohen die Brände in ein besonderes Gebiet vorzudringen: Auf die Flussinsel Ilha do Bananal. Dort befindet sich der letzte Zufluchtsort einer Gruppe Indigener, die in freiwilliger Isolation lebt. Laut dem Indigenenmissionsrat Cimi besteht der Verdacht, dass die Feuer absichtlich gelegt wurden. Das Ziel: den Boden für die Viehzucht und Landwirtschaft nutzbar machen.
Anstieg um 1317 Prozent
Die Recherche zeigt, dass Mato Grosso in der Dürreperiode 2020 zu einer regelrechten Hölle geworden ist. Entspannung der Situation ist erst im November zu erwarten – denn dann beginnt normalerweise die Regenzeit. In der Rangliste der am schwersten betroffenen indigenen Gebiete befinden sich sieben im Bundesstaat Mato Grosso. Der Rekordhalter auf der Liste ist das Vale do Guaporé, in dem die ethnische Gruppe der Nambikwára lebt. Die Zahl der Ausbrüche stieg von 87 im Jahr 2019 auf 1233 im Jahr 2020 - ein schwindelerregender Anstieg von 1317 Prozent. Von den zehn indigenen Gebieten, die in diesem Jahr am meisten unter den Flammen leiden, befinden sich vier in Mato Grosso.
Es gibt zwei Gebiete der Xavante-Indigenen in dem Bundesstaat an der Grenze zu Bolivien: Areões und Parabubure. Beide finden sich auf der Liste der zehn Gebiete mit den meisten Bränden im Jahr 2020 wieder. Der Indigene Lucio Xavante sagt, dass sich die Gebiete in vielen Punkte unterscheiden, aber eine Sorge dieselbe ist: Wann das Feuer die Dörfer erreichen wird. Während in Areões Feuer ausbrechen, weil sorglose Autofahrer Zigarettenstummel aus den Fenstern werfen, brennt es in Parabubure, weil auf umliegenden Farmen Weideflächen verbrannt werden.
Die Recherche zeigt ebenso, dass die Brände auch isoliert lebende Indigene betrafen. Es handelte sich um ein indigenes Gebiet, das weit im Norden an der Grenze zwischen Pará und Amapá liegt und in den Medien nur selten im Fokus steht. Der Parque do Tumucumaque, der zwei isoliert lebende Stämme beherbergt, war mit 1085 Bränden das am heftigsten betroffene indigene Territorium im Oktober 2020.
Im indigenen Gebiet São Marcos im Bundesstaat Roraima wurden derweil 1700 Brände gezählt. Ein Problem: Dort gibt es keine Feuerwehreinheiten. Deshalb haben sich die Indigenen so gut wie möglich selbst organisiert, um die Feuer von ihren Dörfern fernzuhalten. „Leider haben wir hier keine indigene Feuerwehr, weil es dafür keine Mittel gibt. Trotzdem dringt das Team, das der Chef zusammengestellt hat, mutig in den Wald vor“, sagt Marcello Pereira Macuxi, Generalkoordinator der Vereinigung indigener Völker von São Marcos.
Im gesamten Regenwald bedrohen Flammen Indigenen-Gebiete. Hier das Dorf Khinkatxi der Ethnie Wawi im Bundesstaat Mato Grosso.
„Kein Interesse der Regierung“
Nach Einschätzung des Anthropologen und Ex-Präsidenten der Indigenenbehörde Funai, Márcio Meira, ist das staatliche Organ eigentlich dazu verpflichtet, Brände in indigenen Gebieten zu bekämpfen. So stehe es in der Verfassung aus dem Jahr 1988. Diese lege fest, dass der Bund für den Schutz indigener Länder verantwortlich ist. Angesichts der aktuellen Zerstörung indigener Territorien ist Meira aber der Ansicht, dass Maßnahmen der Regierung fehlten, „weil kein Interesse am Umweltschutz“ bestehe.
Maria Augusta Assirati, die die Funai zwischen 2013 und 2014 leitete, weist darauf hin, dass die Behörde zusammen mit dem Umweltministerium, dem Institut für Biodiversitätserhalt ICMBio und der Armee befugt ist, im Bereich der Prävention und Brandbekämpfung zu handeln. Allerdings sei das Budget für diese Art von Operationen immer weiter gekürzt worden. Durch die Trockenlegung der Funai und der damit resultierenden Unfähigkeit Brände zu bekämpfen, ermögliche der Staat einen „kriminellen Kontext“, meint Assirati. Neben dem Umwelterbe fielen dadurch auch indigene Völker zum Opfer.
Vertreter_innen der Funai sagten Repórter Brasil, dass die Behörde „für die Unterstützung von Brandbekämpfungsmaßnahmen und die Überwachung und Umsetzung von Brandschutzmaßnahmen in indigenen Ländern verantwortlich“ sei. Außerdem erklärte die Funai, dass in diesem Jahr 41 Feuerwehreinheiten sowie der erste Schulungskurs zur Verhinderung von Waldbränden in indigenen Gebieten gegründet worden seien. Ziel dieser Maßnahmen sei es, Indigene und Beamte auszubilden, die in betroffenen Gebieten eingesetzt werden können.
Das Geschäft mit dem Feuer
Das indigene Territorium Kayapó in der Region Cumaru do Norte im Bundesstaat Pará gehört zu den am stärksten betroffenen Gebieten. Hier verdreifachte sich die Zahl der Brände von 2019 bis 2020. Eliseu Kayapó, Koordinator des Kenourukaware Kayapó Instituts (IKKA), erklärte im Oktober, dass das wichtigste Dorf der Region seit den Bränden nicht wiederzuerkennen sei. „Es ist nur noch Rauch und Feuer“. Das indigene Gebiet grenzt unmittelbar an zahlreiche Farmen. Deren Besitzer_innen legten Brände, um das Land für die wirtschaftliche Ausbeutung nutzbar zu machen. „Zudem haben wir Probleme mit dem illegalen Bergbau, Holzfällern und der mangelnden Kontrolle.“ Die Situation sei mittlerweile so „chaotisch“, dass nicht mehr festzustellen sei, wodurch die Brände ausgelöst werden.
Eine ähnliche Situation wird im indigenen Gebiet Paresi im Bundesstaat Mato Grosso gemeldet. Dort stiegen die Brände von 1.934 im Jahr 2019 auf 2.164 bis Oktober 2020. Auch hier sei es schwierig, den Ursprung der Feuer zu ermitteln und die Verantwortlichen zu bestimmen. Die indigene Aktivistin und Dorflehrerin Tereza Paresi bekräftigt jedoch, dass Indigene nicht für das Drama verantwortlich gemacht werden können. Der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro hatte immer wieder Indigene beschuldigt, an der Feuerkatastrophe Schuld zu tragen. Laut Paresi hätten die Indigenen ausgefeilte Schutzmechanismen, damit sich die von ihnen gelegten Brände nicht ausbreiteten.
„In diesem Jahr haben wir das Gefühl, dass es schlimmer ist“, bedauert Paresi. „Es ist traurig, weil das Feuer viele wilde Früchte verbrannt hat.“ So seien fast alle Bäume mit Baumstammkirchen verbrannt. Und die Brände sorgen für weitere Probleme: Das Feuer hat viel Holz und Stroh zerstört, das die Indigenen für den Bau ihrer Häuser verwendet hatten.
Laut Ane Alencar, Wissenschaftsdirektorin am Umweltforschungsinstitut von Amazonien (Ipam), sei es unverantwortlich, die Indigenen für die Brände verantwortlich zu machen. „Die indigenen Völker leben seit langer Zeit in diesen Gebieten und wissen, wie man den Wald behandeln muss. Sie haben Kontrollmechanismen, weil sie ihren Supermarkt nicht verlieren wollen.“ Dass die Situation nun außer Kontrolle geraten ist, liege daran, dass die Territorien unter dem Druck von außen stehen. Invasoren nennen viele Expert_innen und Indigene jene Glücksritter, die dem Versprechen von Land und Wohlstand in den Amazonas-Regenwald folgen und regelmäßig mit brutaler Gewalt versuchen, indigene Territorien und Naturschutzgebiete für die wirtschaftliche Ausbeutung einzunehmen.
Mit Drohnen durch Rauchschwaden
Im indigenen Gebiet Uru-Eu-Wau-Wau im Bundesstaat Roraima setzen Indigene eine besondere Technik ein, um das Ausmaß des Schadens einzuschätzen: Drohnen. Auf einem Drohnenflug entdeckten sie Gebiete in der Größe von zwei Fußballfeldern, die von Invasoren in Brand gesetzt wurden. Sie filmten auch frisch gerodetes Land, das verbrannt werden sollte, um es nutzbar zu machen. Die Zahl der Brände in diesem indigenen Territorium ist 38 Prozent höher als im Vorjahr. Bitate Uru-Eu-Wau-Wau, Koordinator der Indigenen-Assoziation Jupaú, sagt, der Rauch behindere zunehmend die Lokalisierung und Identifizierung dieser Gebiete. „Die Drohne steigt 40 Meter hoch in die Luft, aber durch den Rauch sehen wir nichts mehr.“
Die Brände und die Corona-Pandemie reihen sich ein in die lange Liste von Dingen, die den Indigenen Brasiliens Sorgen bereiten. So sind sie konstant den Bedrohungen und Angriffen von Invasoren, Holzfällern und Bergwerksarbeitern ausgesetzt. Trauriger Höhepunkt dieser Gewalt: Im April 2020 wurde der Indigene Ari Uru-Eu-Wau-Wau auf einer Straße in der Nähe seines Territoriums erschlagen aufgefunden. Der 32-jährige war Teil einer Gruppe, die sich „Wächter des Regenwaldes“ nennt. Das brutale Verbrechen ist bis heute nicht aufgeklärt.
Autorinnen: Maria Fernanda Ribeiro & Mariana Della Barba, Repórter Brasil
Übersetzung/Redaktion Februar 2021: Niklas Franzen
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Der Originaltext erschien am 05.11.2020
Zum Weiterlesen:
https://www.nzz.ch/international/waldbraende-im-pantanal-brasiliens-grosses-inferno-ld.1577926
https://taz.de/Extreme-Trockenheit-in-Brasilien/!5713407/
https://www.dw.com/de/brasilien-l%C3%A4sst-waldbr%C3%A4nde-nicht-mehr-l%C3%B6schen/a-55367924
Diese Reportage wurde durch die Mittel des Global Forest Watch (GFW) finanziert. Die GFW wird vom norwegischen Ministerium für Klima und Umwelt unterstützt. Repórter Brasil bewahrt die volle redaktionelle Unabhängigkeit.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.