Der Politiker und die Miliz: Rechte Seilschaften gefährden Landlose in Brasilien
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil
Nachtrag: Dieser Text ist Teil einer Multimedia-Produktion über Milizen und Gewalt auf dem Land und wurde mit dem Vladimir-Herzog-Preis 2020 ausgezeichnet. Es ist derzeit die wichtigste Auszeichnung für Journalismus in Brasilien. .
26.02.2021 I Der Justizsekretär des Bundesstaates Minas Gerais, Mário Lúcio Alves Araújo, steht wegen seiner Nähe zu einer umstrittenen Gruppe in der Kritik. Die Vereinigung „Sicherheit auf dem Land“ setzt sich aus 300 radikalen Großgrundbesitzer_innen zusammen und soll bewaffnete Angriffe auf landlose Bäuer_innen organisiert haben. Nicht wenige bezeichnen die Gruppe als „ländliche Miliz“..
Mit Tränen in den Augen baut der 70-jährige landlose Bauer Sebastião Aparecido de Paula Stück für Stück sein Haus ab, räumt Ziegel und Möbelstücke auf einen Lastwagen. Währenddessen plaudert die Geschäftsfrau Virgínia Tofani Maia freundschaftlich mit den anwesenden Polizisten. Diese waren gerufen worden, um eine Räumung auf der Norte América-Farm in dem Städtchen Capitão Enéas im Norden von Minas Gerais durchzuführen.
Die Unternehmerin bestätigt gegenüber Repórter Brasil, dass eine Gruppe namens „Sicherheit auf dem Land“, in der sich etwa 300 Großgrundbesitzer_innen der Region organisiert haben, Unterstützung von einem prominenten Mann erhält: Mário Lúcio Alves Araújo, amtierender Sekretär für Justiz und öffentliche Sicherheit des Bundesstaates Minas Gerais. „Mário Araújo ist Teil unserer Gruppe. Er ist ein Gesprächspartner“, sagt Maia. „Er ist sehr gut darin, rauszugehen und zu reden.“
Acht Monate vor seiner Amtsübernahme, im April 2018, nahm der Reserve-General Araújo, an einer umstrittenen, von Großgrundbesitzer_innen organisierten Aktion teil. Das Ziel damals: verhindern, dass Aktivist_innen der Landlosenbewegung MST ein Landstück auf der Bom Jesus-Farm im ländlichen Bezirk Montes Claro besetzen. Immer wieder organisiert die größte soziale Bewegung Brasiliens spektakuläre Landbesetzungen und nimmt die in der Verfassung festgeschriebene Landreform selbst in die Hand. Bei jener Aktion im April 2018 vertrieben jedoch die Großgrundbesitzer_innen die Mitglieder der MST, verbrannten die Flagge der Bewegung, blockierten den Zugang für Wasser und Nahrungsmittel und bedrohten landlose Familien - ohne jegliche gerichtliche Genehmigung. Die Menschenrechtskommission des Landtags von Minas Gerais bezeichnete die Gruppe „Sicherheit auf dem Land“ danach als „ländliche Miliz“.
„Diese ländliche Miliz hat keinerlei Befugnis, Räumungen durchzuführen - schon gar nicht ohne Gerichtsbeschluss“, heißt es in einem Beschwerdebrief, der von 30 Organisationen unterzeichnet wurde, unter anderem von der Landpastorale CPT, der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer von Minas Gerais, der Landlosenbewegung MST und Gewerkschaftsorganisationen. In der Beschwerde ist ein Foto Araújos zu sehen, wie er während der Aktion mit Polizisten spricht.
Bewaffnete Hinterhalte
Neben dieser Episode, in die der heutige Justizsekretär verwickelt ist, beteiligte sich die Gruppe „Sicherheit auf dem Land“ an weiteren ähnlichen Aktionen. 2017 und 2018 führte sie zwei bewaffnete Hinterhalte gegen landlose Bäuer_innen durch. Beide fanden auf dem Gelände der Norte América-Farm statt, von dem der Bauer Sebastião de Paula und Dutzende Familien im Dezember 2019 vertrieben wurden.
Im April 2017 wurden die Landlosen zu einem Treffen in das Büro der Farm einbestellt. Als sie dort ankamen, wurden sie jedoch plötzlich aus einem Pickup beschossen. Drei MST-Mitglieder wurden getroffen.
Ein weiterer Angriff fand im März 2018 statt. Dieser wurde später auch als „Trojanisches Pferd“ bezeichnet. Diesmal war das Ziel nicht die MST, sondern die ländliche Bewegung FNL. Ein Lastwagen fuhr in die Landbesetzung, angeblich um Möbel abzuholen. Als die Tür des Fahrzeuges geöffnet wurde, stürmten plötzlich 20 bewaffnete Männer heraus und begannen auf die Landlosen zu schießen. Ein Aktivist wurde dabei getötet, fünf weitere verletzt.
João Cardoso ist einer der Bewohner, der aus seinem Haus auf der Fazenda vertrieben wurde.
Die Zivilpolizei ermittelte in dem Fall und nannte Leonardo Andrade, Ex-Sekretär des Rathauses von Montes Claro, als Auftraggeber der Aktion. Jener Andrade tauchte kurzzeitig unter. Schließlich wurde er jedoch verhaftet, ebenso weitere 12 Personen, darunter der Anwalt und der Betriebsleiter der Farm. Andrade war bereits im Jahr 2016 im Rahmen der Katagenese-Operation verhaftet und angeklagt worden. Damals ging es um Unregelmäßigkeiten mit öffentlichen Mitteln. 35 Tage verbrachte Andrade im Gefängnis. Erst ein Urteil des Obersten Bundesgerichtshof setzte ihn wieder auf freien Fuß.
„Wir versuchen zu beruhigen”
Die Unternehmerin Virgínia Maia vertrat öffentlich die Interessen von Leonardo Andrade. Auf Nachfrage von Repórter Brasil, ob die Gruppe „Sicherheit auf dem Land“ eine Miliz sei, antwortete sie: „Niemals. Es gibt keine Waffen. Ganz im Gegenteil“. Laut Maia habe die Gruppe noch nicht einmal „einen Knüppel benutzt“. Sie erklärte, dass die Großgrundbesitzer_innen lediglich zu einigen Aktionen gegangen seien und dort die Flagge Brasiliens und ein Hemd mit dem Namen der Gruppe getragen hätten. Allenfalls körperlich hätten sie sich zur Wehr gesetzt. „Wir versuchen zu beruhigen”, sagt Andrade.
Und die Gewaltakte auf der Norte América-Farm? Maia erklärte, dass sie daran nicht beteiligt war und die Entwicklungen nur in der Presse verfolgt habe. „Der Besitzer der Farm hat damals einen schweren Verlust erlitten“, sagt sie. „Was hier passiert ist, [Angriffe auf Landlose] war eine Reaktion auf die Gewalt der anderen Seite.“
Leonardo Andrade sagte gegenüber Repórter Brasil, dass er die Verluste durch die Besetzung auf umgerechnet mehr als eine Millionen Euro schätze. „Als sie ankamen, sah es aus wie ein Banküberfall, so schwer waren sie bewaffnet“. Weiter erklärt Andrade, er sei aus dem Fenster gesprungen und weggelaufen, weil er wegen einer Krebsbehandlung geschwächt gewesen war. 12 Rinder seien von den Landlosen getötet, 300 weitere gestohlen worden. 70 Milchkühe hörten eine Woche lang auf Milch zu geben und starben kurze Zeit später. Weitere 65 Kühe verloren an Wert, als die Zitzen versagten. Andrade behauptet, die Landlosen seien grausam gegenüber den Tieren gewesen, hätten einer wertvollen Stute in den Kopf geschossen und einem Esel die Füße abgeschnitten.
Und die Angriffe auf die Landlosen? Andrade sagt, dass er damals nicht auf der Farm gewesen sei. Der Angriff sei für ihn „normale Reaktion“ seiner Mitarbeiter gewesen. Sie hätten erst geschossen, als sie die landlosen Bauern auf das Hauptquartier der Farm zulaufen sahen. Den zweiten Angriff, der im Stil eines „Trojanischen Pferdes“ beschrieben wurde, bestreitet Andrade ganz. Seine Haftstrafe sei eine „Ungerechtigkeit“ gewesen, ein Komplott der Zivilpolizei. Diese habe enge Verbindungen zu den Abgeordneten der sozialdemokratischen PT. Er sei ein politisch Verfolgter. Sein Urteil: „Die Zivilpolizei handelt im Auftrag der PT.“
Die Polizei vertreibt Bewohner_innen der Fazenda Norte América. Bei der gewaltsamen Aktion wurden mehrere Menschen verletzt.
Der Koordinator der FNL im Norden von Minas Gerais, Geraldo Pires de Oliveira, bestreitet, dass die Landlosen Waffen benutzt und die Tiere auf der Farm verletzt haben. Laut Oliveira arbeite die gesamte Polizei der Region mit den Großgrundbesitzern zusammen. „Wir wissen, wie der archaische Landbesitzer tickt. Er denkt, alles mit der Pistole lösen zu können.“
Kumpel von Bolsonaro
Sowohl die Geschäftsfrau Virgínia Maia als auch der amtierende Justizsekretär Araújo ließen sich als Kandidat_innen bei den Wahlen 2018 aufstellen. Beide zogen erfolglos für die Sozial-Liberale-Partei (PSL) ins Rennen – jener Partei, mit der Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt wurde.
Araújo ist ein alter Bekannter des rechtsradikalen Präsidenten. In den 1980er Jahren studierten sie in derselben Klasse an der Militärakademie von Agulhas Negras im Bundesstaat Rio de Janeiro. Ein Foto von Araújo ging Ende Februar 2020 in sozialen Netzwerken und WhatsApp-Gruppen viral. Rechtsextreme Bewegungen hatten mit seinem Konterfei für antidemokratische Proteste am 15. März mobilisiert. Auf den virtuellen Plakaten hieß es: „Lasst uns in Massen auf die Straße gehen. Die Generäle warten auf die Befehle des Volkes. Weg mit Maia [Rodrigo Maia, ehemaliger Präsident der Abgeordnetenkammer] und Alcolumbre [Davi Alcolumbre, ehemaliger Präsident des Senats].“
Araújo wurde vom rechten Gouverneur von Minas Gerais nominiert, das Sekretariat für Justiz und öffentliche Sicherheit zu übernehmen. Im Januar 2019 trat er sein Amt an. Bevor er Sekretär wurde und an Aktionen der Gruppe „Sicherheit auf dem Land“ teilnahm, befehligte er den Generalstab der 4. Militäreinheit in Belo Horizonte. Araújo erklärte, er würde sich nicht zu „Aussagen Dritter“ äußern. In einer Mitteilung des Sekretariats für Justiz und öffentliche Sicherheit beantwortete er die Fragen zur Gruppe „Sicherheit auf dem Land“ nicht. Er teilte lediglich mit, dass er „die Aufgabe habe, die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zu gewährleisten und gegen jede Gewalt auf dem Land oder im städtischen Raum vorzugehen, unabhängig von der Gruppe oder sozialen Klasse“.
Wenn die Hoffnung stirbt
„Die Bildung bewaffneter Gruppen und die illegale Verteidigung von Eigentum auf dem Land ist ein Trend“, sagt Afonso Henrique de Miranda Teixeira, der sich für die Staatsanwaltschaft um Landkonflikte in Minas Gerais kümmert. Brasilien habe längst Praktiken wieder aufgenommen, die bereits in Vergessenheit geraten schienen. Dadurch, dass die Bundesregierung eine Agrarreform verhindere, begrabe sie in der Verfassung niedergeschriebene Rechte für die arme Landbevölkerung. Die größte Gewalt bestehe darin, „die Hoffnung auf einen Raum zum Überleben“ zu zerstören.
Mit 70 Jahren hätte Sebastião Aparecido de Paula nicht gedacht, dass er noch einmal von vorne anfangen müsste. Er weiß nicht, ob er nach seiner Vertreibung einen Job bekommen wird. „Wir müssen in die Stadt ziehen. Ich gehe auf die Straße, aber nur widerwillig.“ Während er seine Hütte abbaut, erinnert er sich an alles, was er auf dem Gelände geerntet hat - einmal einen 24 Kilo schweren Kürbis. „Unsere einzige Hoffnung war es, für ein Stück Land zu kämpfen.“
Autor: Daniel Camargos
Übersetzung/Redaktion: Niklas Franzen
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Der Originaltext erschien am 22.05.2020.
https://amerika21.de/2020/08/242728/brasilien-landlose-raeumung-bolsonaro
https://www.dw.com/de/brutaler-konflikt-um-grund-und-boden-in-brasilien/av-54827234
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts, Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen, produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.