Kinderarbeit in Indien: Wenn Schule Luxus wird
In Indien gibt es rund zehn Millionen Kinderarbeiter_innen. Aufgrund von geschlossenen Schulen und steigender Armut könnten es nun noch mehr werden. Bei vielen Mädchen werde die Ausbildung in den Hintergrund rücken, warnt Kishore Bhamre von der NGO Prahtam.
Sie sind an vielen kleinen Geschäften in Mumbai zu sehen: runde blaue Aufkleber, auf denen »Child Labor Free Shop« mit einem lächelnden Gesicht steht. Darunter ist die Telefonnummer der Hilfsstelle von Pratham vermerkt. Die in Mumbai ansässige Nichtregierungsorganisation verfolgt einen mehrgleisigen Ansatz gegen Kinderarbeit. »Rettungsaktionen von Minderjährigen in Zwangsarbeit sind dramatisch für sie. Wir versuchen, Ladenbesitzer_innen darin zu bekräftigen, keine Kinder zu beschäftigen, und klären in den Dörfern auf, damit Kinder nicht weiter rekrutiert werden«, sagt Kishore Bhamre, leitender Sozialarbeiter beim Pratham Council for Vulnerable Children.
»Besonders viele kommen aus den Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar«, sagt Bhamre, das habe die Erfahrung aus knapp 20 Jahren gezeigt. Es sind die ärmsten Bundesstaaten. Der Kurla-Bahnhof in Mumbai ist einer der Verkehrsknotenpunkte, an dem die Mitarbeiter_innen von Pratham Ausschau nach Kindern halten, die in der Stadt ankommen. Das machen sie nicht nur in Mumbai, sondern auch in weiteren Metropolen wie der Hauptstadt Delhi. Momentan sind es weniger Neuankömmlinge, denn in Indien ist der öffentliche Nahverkehr wegen der Pandemie seit einem Jahr stark eingeschränkt. Bhamre vermutet, dass in den Städten die Zahl von beschäftigten Kindern nicht so stark angestiegen ist. Aber man müsse abwarten, was passiert, wenn Indiens Wirtschaft wieder hochfährt, warnt er.
Nach indischem Recht haben Kinder bis zum Alter von 14 Jahren Anspruch auf kostenlose Bildung. So lange diese Schulpflicht besteht, ist es ihnen verboten zu arbeiten. Dennoch schätzt das UN-Kinderhilfswerk Unicef, dass Indien mit 1,4 Milliarden Einwohner_innen zu den Ländern mit den meisten minderjährigen Arbeiter_innen gehört. Trotz sinkender Zahlen geht das Kinderhilfswerk der UN von etwa zehn Millionen Kindern aus, eine Zahl, die auch die internationale Arbeitsorganisation Ilo bestätigt. Und die Gefahr ist hoch, dass aufgrund von geschlossenen Schulen und steigender Armut Kinderarbeit wieder auf dem Vormarsch ist.
Zwar fehlen gerade auch den Erwachsenen die Jobs, doch »Kinder sind leicht auszubeuten, und sie werden keine Gewerkschaft gründen oder streiken«, sagt Bhamre. Deshalb könnten Unternehmen, die in der Pandemie Verluste gemacht machen, versuchen so Personalkosten zu sparen. Die Jungen werden in Städte und Industriezentren gelockt und sind vermehrt in kleinen Fabriken, Gerbereien oder im Dienstleistungsbereich eingespannt. »Das ist zwar nicht immer sichtbar, doch passiert in Mumbai an verschiedenen Orten«, sagt der Sozialarbeiter. Auch wenn die Westküstenmetropole in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht habe.
Ein weitaus größerer Teil der Kinder leistet harte Arbeit in der Landwirtschaft. Mädchen sind zudem der Gefahr von sexueller Ausbeutung ausgesetzt. Sie arbeiten als Haushaltshilfen oder werden jung verheiratet. Das ist zwar verboten, kommt aber häufiger vor, wenn Familien in finanzielle Notlagen geraten. »Bei vielen Mädchen wird nun durch den wirtschaftlichen Druck die Ausbildung in den Hintergrund rücken«, so Bhamre.
Hinzu kommt, dass es zwar Unterrichtsstunden per Smartphone gibt, doch die teilweise noch geschlossenen Schulen für die Kinder aus Familien an der Armutsgrenze auch bedeuten, dass sie kein kostenloses Mittagessen mehr bekommen. Die Regierung verteilte deshalb in ländlichen Gebieten wie Palghar, unweit von Mumbai, Lebensmittelrationen.
Dass die Schüler_innen nun bei der schrittweisen Schulöffnung ausbleiben, könne aber auch die Sorge vor Corona sein, sagt Lehrer Sandip Lende, der an einer privaten Schule im 150 Kilometer von Mumbai entfernten Nashik unterrichtet. Er hat mit Kolleg_innen Geld für die Abschlussprüfungsgebühren seiner Schüler_innen gesammelt, damit alle teilnehmen können. Er ist bei den oberen Stufen optimistisch, da die Kinder es schon so weit geschafft haben. Er nimmt sich aber auch die Zeit, mit den Familien zu sprechen, um sie von der Ausbildung der Kinder zu überzeugen.
Schon vor dem Ausbruch der Pandemie hatte Indien laut UN damit zu kämpfen, dass 56 Millionen Kinder nicht zur Schule gingen, was auf mittlere und lange Sicht auch die Produktivität der Wirtschaft beeinträchtigt. Um die Kinder in der Schule zu halten, müssen familiäres Umfeld, Gemeinde und engagierte Pädagog_innen an einem Strang ziehen.
Manche Angehörige nutzen jedoch, dass Kinder etwa beim Betteln mehr Geld einbringen. »Das ist sehr harte Arbeit«, sagt Christiane Gey, die die Organisation Childsrights gegründet hat und drei Kinderhäuser in Indien betreut. Andere Kinder liefen von zu Hause weg und fänden sich auf der Straße, in der Prostitution oder in schwerer körperlicher Arbeit wieder.
Dass Kinderrechte oftmals nicht eingehalten werden, hat Gey zur Genüge erlebt »Kinder brauchen eine eigene Stimme, um sich zu verteidigen«, doch ihren Schützlingen falle es noch schwer, über diesen Teil ihrer Vergangenheit zu sprechen. Sie hofft, dass sie in ein paar Jahren dazu in der Lage sein werden und damit vielleicht anderen Kindern helfen können.
Autorin: Natalie Mayroth lebt in Mumbai und berichtet als Journalistin aus Südasien.
März/2021