Antifaschismus und Arbeitskampf in Brasilien: „Als Erstes müssen die Fahrer verstehen, dass sie ausgebeutet werden.“
Die brasilianische Metropole São Paulo ist der Ausgangspunkt einer jungen rebellischen Bewegung. In ihr haben sich Menschen zusammengeschlossen, die im Auftrag von Uber, iFood oder anderen großen Unternehmen Essen ausfahren. Bislang werden sie als Kleinunternehmer_innen behandelt, dabei sind sie von ihren Auftraggebern abhängig. Niklas Franzen berichtet über die „Antifaschistischen Lieferant_innen“, die inzwischen auch von Gewerkschaften unterstützt werden.
Ein Artikel aus der Broschüre Transformation weltweit (2020).
Mit einem Video startete die Revolte auf zwei Rädern. Ende März düste Paulo Lima, von allen nur Galo („Hahn“) genannt, mal wieder mit seinem Motorrad durch die schier endlosen Straßen der Megametropole São Paulo. Auf dem Rücken einen gigantischen Rucksack mit dem Aufdruck eines Lieferdienstes. An einer Straßenecke zückte Galo sein Smartphone, klappte seinen Helm hoch und begann mit dem Slang der Vorstadt in die Kamera zu schimpfen: „Es ist Folter, Hunger zu haben und Essen auf dem Rücken zu transportieren.“ Der 31-Jährige rechnete nicht damit, dass viele Menschen das Video sehen würden. Dass er sich am nächsten Tag kaum noch vor Interviewanfragen retten könne. Dass er gar den Startpunkt einer Bewegung setzen würde. Doch genau so kam es. Das Video wurde zu einem Internethit, Tausende teilten den Clip in den sozialen Medien. Und vor allem: Andere Essenslieferant_innen teilten ebenfalls ihre Erfahrungen. So kam Galo die Idee, die Branche zu organisieren. Es war die Geburtsstunde der entregadores antifascistas, der „Antifaschistischen Lieferanten“.
„Es ist Folter, Hunger zu haben und Essen auf dem Rücken zu transportieren.“
Galo ist einer von Millionen Essenlieferant_innen in Brasilien. Nicht erst seit Corona boomen Online-Lieferdienste, verschiedene Firmen konkurrieren auf dem brasilianischen Markt. Die Fahrer_innen mit den riesigen, quadratischen Rucksäcken sind von den Straßen São Paulos und Rio de Janeiros nicht mehr wegzudenken. In Brasilien sollen bereits mehr als vier Millionen Menschen Essen mit Motorrädern und Fahrrädern ausliefern, das die Kund_innen gemütlich von Zuhause über Apps auf ihrem Smartphone bestellen.
Die Widersprüche des Digital-Kapitalismus
Die Unternehmen stellen sich im krisengebeutelten Brasilien gerne als Wohltäter dar. Ihre Apps würden Jobs schaffen, heißt es. Und tatsächlich bewahren die Plattformen viele ungelernte Brasilianer_innen vor der Arbeitslosigkeit. Allerdings: Die Fahrer_innen arbeiten zwar für multinationale Tech-Firmen wie Uber, iFood oder Rappi, sind aber nicht bei ihnen angestellt und haben keine Arbeitsverträge. Im Silicon-Valley-Jargon gelten sie als „Kleinunternehmer_innen“.
„Das ist Unsinn. Wir sind Arbeiter“, meint Galo. „Und wir werden ausgebeutet.“ Er kommt aus dem armen Stadtrand, kennt die Probleme der Branche gut. Einmal war er gerade bei der Arbeit, als ein Reifen seines Motorrads platzte. Da das Essen nicht ankam, wurde er von der Plattform vorübergehend gesperrt. Andere Fahrer_innen klagen über den geringen Lohn und die hohe Belastung. Viele arbeiten täglich mehr als 12 Stunden, um über die Runden zu kommen – obwohl die Arbeitsgesetze in Brasilien nur 8 Stunden pro Tag vorsehen. Fahrzeuge müssen die Fahrer_innen anschaffen, Reparaturkosten selbst stemmen. Durch den Zeitstress gibt es viele Unfälle. Lieferant_innen, die Essen mit dem Fahrrad ausliefern, verdienen besonders wenig. In kaum einer anderen Branche werden die Widersprüche des Digital-Kapitalismus so deutlich.
Und nun macht auch noch Corona vielen Fahrer_innen zu schaffen. Die Pandemie wütet im größten Land Lateinamerikas besonders schlimm, mehr als 170.000 Menschen sind bis Anfang Dezember bereits an dem Virus verstorben. Mit Jair Bolsonaro ist ein Wissenschaftsskeptiker und Verschwörungs-ideologe Präsident. Insbesondere ärmere Brasilianer_innen leiden unter der Gesundheitskrise und dem Missmanagement der Regierung. Auch viele Essenslieferant_innen infizierten sich früh mit dem Virus, steckten Verwandte an.
Galo hat große Angst vor einer Erkrankung. Doch der Vater einer kleinen Tochter ist auf das Geld der Arbeit angewiesen. Noch nicht einmal zwei schwere Unfälle konnten ihn davon abhalten, weiter als Lieferant zu arbeiten. Viele Fahrer_innen denken so: Besser schlechte Arbeit als gar keine.
Die Arbeitslosigkeit steigt rasant, fast 9 Millionen Brasilianer_innen verloren bereits ihren Job. Immer mehr potenzielle Fahrer_innen werden auf den Markt gespült werden, dies drückt wiederum die Löhne.
Dabei kommt die durch die Pandemie verschärfte Wirtschaftskrise den Lieferfirmen sogar zugute: Die Arbeitslosigkeit steigt rasant, fast 9 Millionen Brasilianer_innen verloren bereits ihren Job. Immer mehr potenzielle Fahrer_innen werden auf den Markt gespült werden, dies drückt wiederum die Löhne. In verschiedenen Studien gab der Großteil der Fahrer_innen an, vor der Pandemie mehr verdient zu haben. Die Tech-Firmen verzeichnen Rekordumsätze – und stellen ihren Fahrer_innen oft noch nicht einmal Schutzmasken zur Verfügung. Kein Wunder, dass sich der Zorn von Galo und seinen Kolleg_innen nach Ausbruch der Pandemie entlud.
Zusammen mit Fußballfans und linken Gruppen
Mit einer Handvoll anderer Fahrer_innen aus dem Großraum São Paulo gründeten sie die Gruppe „Antifaschistische Lieferanten“. Als in der Megacity Fußballfans und linke Gruppen gegen die Bolsonaro-Regierung auf die Straße gingen, demonstrierten auch die Rebellen auf zwei Rädern mit. Die Fotos der jungen Männer mit den großen Rucksäcken machten schnell die Runde. Bald gründeten sich auch in anderen Städten Gruppen. Heute hat die Bewegung einige hundert Mitglieder im ganzen Land. Die einzelnen Gruppen agieren in ihren Städten autonom, regelmäßig finden jedoch landesweite Videokonferenzen statt.
Bisheriger Höhepunkt der jungen Bewegung war der 1. Juli. An jenem Tag beschlossen Galo und die anderen, die Arbeit niederzulegen. Hunderte Lieferant_innen düsten in verschiedenen Städten hupend und in Arbeitskluft durch die zentralen Straßen, blockierten mit hochgereckten Fäusten einige Autobahnen. Kund_innen wurden im Netz dazu aufgerufen, an diesem Tag kein Essen zu bestellen. Ein wilder Streik – der erste seiner Art.
Die Streikenden forderten einen höheren Stundenlohn, eine Unfallversicherung, weniger Druck und Unterstützung bei der Bekämpfung der Pandemie. Einige Wochen später wurde erneut ein Streik organisiert. Hat das Wirkung gezeigt? Die Unternehmen, sagt Galo vier Monate später, hätten nach ihren Aktionen vereinzelte Verbesserungen umgesetzt. „Aber das war viel zu wenig“, schimpft er. Und Fahrer_innen, die sich am Streik beteiligten, sollen von den Firmen weniger Aufträge erhalten haben. Auch Galo hat mit Repressalien über das Smartphone zu kämpfen. „Ich habe einen Monat lang keine einzige Bestellung bekommen. Ich bin mir sicher, dass das mit meinem Aktivismus zu tun hat.“ Dennoch sei der Streik richtig gewesen, da es vor allem darum gegangen sei, dass die Arbeiter_innen Selbstbewusstsein entwickelten: „Als Erstes müssen die Fahrer verstehen, dass sie ausgebeutet werden.“
Mit den Kolleg_innen über Politik zu reden, sei aber nicht immer einfach. „Sie bekommen eingetrichtert, die Politik zu hassen.“ Viele verstünden nicht, dass das Problem nicht bei ihnen liege. „Das Ziel dieser Unternehmen ist es, uns zu spalten und zu vereinzeln.“ Jeden Tag führt Galo Gespräche mit Kolleg_innen. Gibt Ratschläge. Versucht, sie für die Bewegung zu gewinnen.
Galos eigenes Klassenbewusstsein, betont er stolz, komme vom Hip-Hop. Marx habe er nie gelesen. „Viel zu kompliziert.“
Galos eigenes Klassenbewusstsein, betont er stolz, komme vom Hip-Hop. Marx habe er nie gelesen. „Viel zu kompliziert.“ Mit dem wahrscheinlich bekanntesten Bartträger Triers teilt er die Auffassung, dass sich viele Probleme nur mit der Überwindung des Kapitalismus lösen lassen. In den Gesprächen mit anderen Fahrer_innen gehe es meist erstmal nicht um die große Politik. Dort stünden die Alltagssorgen im Vordergrund. „Die Revolution wird nicht morgen geschehen“, meint Galo. „Aber morgen müssen wir Essen auf unseren Tellern haben.“
Warum sich die Bewegung als „antifaschistisch“ bezeichne? Primär werde zwar für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Lieferbranche gekämpft, meint Galo, aber die Gruppe sei thematisch breiter aufgestellt. So engagieren sich die „Antifaschistischen Lieferanten“ gegen die rechtsradikale Bolsonaro-Regierung. Auch über Rassismus werde viel diskutiert. Wie die meisten Lieferant_innen entspricht Galo genau dem Profil der neuen digitalen Arbeiterklasse: männlich, Vorstadtbewohner, schwarz.
Eine neue digitale Arbeiterklasse
Mit seinen flammenden Reden und seiner authentischen Art schaffte es Galo zu einiger Berühmtheit. Er gab Fernsehinterviews, traf sich mit Politiker_innen, wurde zu Konferenzen eingeladen. Allerdings betont er immer wieder, kein Anführer zu sein. Die Gruppe gibt sich bewusst horizontal, bisweilen anarchistisch und will sich nicht von Parteien oder Gewerkschaften vereinnahmen lassen. Eine linke Partei bot Galo an, ihn als Kandidaten für die Kommunalwahl aufzustellen. Doch der lehnte ab. „Ich bin Politiker der Straße, das reicht.“
Dass Essenslieferant_innen für ihre Arbeitsrechte kämpfen, ist bemerkenswert. Denn die Branche gilt als schwer für Arbeitskämpfe zu mobilisieren. „Die technologische Entwicklung hat das Verständnis von Arbeit verändert“, sagt Flávia Silva, Projektkoordinatorin des Regionalbüros des DGB-Bildungswerkes in São Paulo. „Viele Lieferanten fühlen sich nicht mehr als Arbeiter, weil sie keine traditionellen Anstellungsverhältnisse haben.“ Und die Gewerkschaften, die formell beschäftigte Industriearbeiter_innen vertreten, täten sich mit dieser neuen Art der Arbeiterklasse immer noch schwer.
Allerdings hätten einige Gewerkschaften begonnen, die Bewegung zu unterstützen. Ein langsames Umdenken, meint auch Galo. Und wie geht es weiter? Laut dem linken Lieferanten soll bald eine eigene Gewerkschaft gegründet werden. Die „Antifaschistischen Lieferanten“ sollen aber trotzdem weiter aktiv bleiben. Denn die wichtigsten Kämpfe, meint Galo, finden auf der Straße statt – oder auf zwei Rädern.
Der Autor, Niklas Franzen, ist Journalist und lebte bis vor wenigen Monaten in São Paulo, wo er für Zeitungen wie taz und nd berichtete. Derzeit schreibt er ein Buch über Brasilien.
Der Artikel erschien in der Broschüre, Transformation weltweit – für Gute Arbeit im digitalen und ökologischen Wandel, im Dezember 2020.