Kriminalisierung von Landlosen in Brasilien fordert weitere Tote
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil
23.09.21 | Bei der Räumung einer Landlosen-Besetzung im August erschoss die brasilianische Polizei drei Kleinbauern. Überlebende sprechen von einer Hinrichtung. Wie die Menschenrechtsorganisation Repórter Brasil, Partner des DGB-Bildungswerk BUND, berichtet, ist das Gebiet seit Langem Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen Landlosen und Viehzüchtern, die auch den weltgrößten Fleischkonzern JBS beliefern. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hetzte gegen die Bewegung, nachdem in der Gegend zwei Polizisten von Unbekannten erschossen wurden. Seit seinem Amtsantritt 2019 nahm die Zahl von Landkonflikten um 60 Prozent zu.
Anzeichen für eine Hinrichtung? Nach dem Polizeieinsatz, bei dem ein Sonderkommando drei Landlose erschoss, blieben massenweise leere Patronenhülsen zurück (Foto: Abrapo / Divulgação)
Als das Sonderkommando der Polizei mit seinen Durchsuchungen im Landlosen-Camp ‚Ademar Ferreira‘ am 13. August dieses Jahres fertig ist, hinterlässt es verwüstete Beete, zerstörte Hütten und drei Tote. Zwei von ihnen – Vater und Sohn – befinden sich gerade bei der Feldarbeit als sie von Schüssen getroffen werden und verbluten. Eine dritte Person wird bei der Flucht von mehr als 20 Polizeikugeln niedergestreckt. Die drei Kleinbauern, Amarildo Aparecido Rodrigues, Amaral José Stoco Rodrigues und Kevin Fernando Holanda de Souza, gehörten der ‚Liga der armen Bauern‘ (Liga dos Camponeses Pobres, LCP), kurz Liga, an. Die Bewegung kämpft in dem ländlich geprägten Bundesstaat Rondônia an der Grenze zu Bolivien für die Vergabe von Land an mittellose Kleinbäuer_innen.
Nach Aussagen von Überlebenden des blutigen Polizeieinsatzes wurden die Bewohner_innen des Camps von den Sicherheitskräften überrascht. Die meisten befanden sich in ihren Hütten oder arbeiteten auf den angrenzenden Feldern, als plötzlich zwei Hubschrauber über ihrer Siedlung auftauchten. Ohne Vorwarnung eröffnete die Polizei das Feuer, berichten Zeugen später. Panik brach aus und sie rannten in den Wald, um sich im Dickicht zu verstecken. Mitglieder des Sonderkommandos der Polizei (Batalhão de Operações Especiais, Bope) sowie der Nationalgarde tauchten auf und kesselten das Gebiet ein. Währenddessen warteten die geflüchteten Bauern und Bäuerinnen bis in die Nacht im Wald. Erst im Schutz der Dunkelheit machten sie sich auf in das benachbarte Camp ‚Tiago dos Santos‘, das auch von der Liga organisiert ist.
Bei der Flucht über die Felder, so gab einer der Überlebenden anschließend zu Protokoll, kam er an einer breiten Pfütze aus Blut vorbei, daneben ein Rucksack und eine Wasserflasche.
Bei der Flucht über die Felder, so gab einer der Überlebenden anschließend zu Protokoll, kam er an einer breiten Pfütze aus Blut vorbei, daneben ein Rucksack und eine Wasserflasche. „Amarildo und Amaral – Vater und Sohn – wurden inmitten ihrer Feldarbeit erschossen“, bestätigt die Anwältin Lenir Correia von der gemeinnützigen Brasilianischen Anwaltsvereinigung der Armen (Associação Brasileira de Advogados do Povo, Abrapo), die die Landbesetzer_innen vertritt. Einer der Zeugen hat geschildert, wie der Vater Amarildo Aparecido Rodrigues und sein Sohn Amaral José Stoco Rodrigues dort ums Leben kamen.
Aus Sicht der Polizei stellen sich die Umstände, die zum Tod der beiden führten, anders dar. Vielmehr sei sie von drei Männern überrascht worden, von denen zwei das Feuer eröffnet hätten. „Die Polizist_innen wehrten sich gegen die ungerechtfertigte Aggression, gaben Schüsse ab und erschossen dabei zwei Personen“, heißt es im Polizeibericht. Die beiden Opfer seien mit Gewehren bewaffnet gewesen. Eine dritte Person wurde wegen Hausfriedensbruch (Landbesetzung) verhaftet, doch später aufgrund fehlender Beweise freigelassen, bestätigt die Anwaltsvereinigung Abrapo.
Laut Polizei kam das dritte Opfer, Kevin Fernando de Holanda, zu Beginn des Einsatzes ums Leben. Die Einsatzkräfte seien von einem Jeep und zwei Mopeds überrascht worden, während sie das Camp durchsuchten. „Als diese die Polizeisperre erblickten, ignorierten sie den Befehl zum Halten und flüchteten“, so die Version der Polizei. Fernando de Holanda sei eines der Motorräder gefahren. „Bei seinem Fluchtversuch zog er eine Waffe und feuerte Schüsse ab. Doch weiter hinten stürzte er getroffen“. Polizeibeamte kamen bei dem Einsatz nicht zu Schaden.
Die Anwältin Lenir Correia bezweifelt die Version der Sicherheitskräfte. Fernando de Holanda sei von mehr als 20 Kugeln getroffen, die meisten in den Rücken. „Das war eine Hinrichtung“, so Correia.
Die Anwältin Lenir Correia bezweifelt die Version der Sicherheitskräfte. Fernando de Holanda sei von mehr als 20 Kugeln getroffen, die meisten in den Rücken. „Das war eine Hinrichtung“, so Correia. Entsprechend herrsche viel Wut unter den Angehörigen und Freunden. „All die ermordeten, inhaftierten, attackierten Bauern und Bäuerinnen sind ehrwürdige Arbeiter_innen“, erklärte die Liga und kündigte an, den Mord an den drei Bauern zu rächen.
Kriminalisierung einer sozialen Bewegung
Der tödliche Polizeikessel vom August war nicht der erste dieser Art. Der Konflikt selbst reicht ins Jahr 2013 zurück, als sich landlose Bäuerinnen und Bauern zusammenschlossen, um brach liegendes Land eines Großgrundbesitzers zu besetzen, für das dieser keine rechtmäßigen Landtitel vorweisen konnte. Doch seit im Oktober vergangenen Jahres in der Gegend zwei Polizisten ermordet wurden, macht die Polizei eine regelrechte Jagd auf die Mitglieder der Liga und beschuldigt diese des Mordes an den zwei Beamten. Die Chefermittlerin der Mordkommission, Leisaloma Carvalho, geht davon aus, dass „die Bauern die Beamten in Zivil für Wachen der Ranch hielten“. Die Anwältin der Liga weist die Anschuldigungen vehement zurück. Bis heute gibt es keine Anklage.
Razzia: Polizisten in Zivil und ohne Erkennungszeichen suchen nach Schuldigen für den Tod von zwei Kolleg_innen in der in der Nähe des Camps der Landlosenbewegung LCP, in Rondônia, Westen Brasiliens. (Foto: Fernando Martinho/Repórter Brasil)
Doch der Druck auf die Landlosen ist seitdem massiv gestiegen. Wiederholt haben die Sicherheitskräfte von Rondônia die Kleinbäuer_innen in ihren Camps eingekesselt und bedroht. Auch Journalist_innen von Repórter Brasil wurden bei einer Recherche im März 2020 von Polizist_innen in zivil und ohne Erkennungszeichen mit vorgehaltener Waffe zum Verlassen der Gegend aufgefordert. Die Guerilla sei in dem Gebiet aktiv, hieß es als Begründung. Dabei hat selbst der Bundesstaatsanwalt in Rondônia (Ministério Público Federal, MPF-RO), Raphael Bevilaqua, Zweifel am staatlichen Vorgehen. Das Problem sei, so der Staatsanwalt, dass sich in Rondônia die Aufgaben der öffentlichen Sicherheit und privater Sicherheitsschutz sehr oft vermengten. Das führe dazu, dass sich der Staat auf einer Seite eines Landkonfliktes positioniere und parteiisch verhalte.
Auch Journalist_innen von Repórter Brasil wurden bei einer Recherche im März 2020 von Polizist_innen in zivil und ohne Erkennungszeichen mit vorgehaltener Waffe zum Verlassen der Gegend aufgefordert.
Aufgeklärt ist der Tod der beiden Polizisten bis heute nicht. Doch uneindeutige, aber starke Bilder einer vermeintlichen Exekution gingen durch die Medien und riefen den Präsidenten Jair Bolsonaro auf den Plan. In den sozialen Medien attackierte er die Liga persönlich und kündigte eine drastische Reaktion an: „Macht Euch bereit. Das lasse ich Euch nicht durchgehen. Hier gibt es keinen Platz für Terroristen”, so das Staatsoberhaupt Mitte Mai.[1] Sein ältester Sohn, Senator Flávio Bolsonaro, reiste in die Region und traf sich demonstrativ mit Großgrundbesitzer_innen. Nur kurz darauf erteilte ein Gericht die Genehmigung, das Camp zu räumen. Medienwirksam und unter Einsatz von Tränengas vertrieben Hunderte Polizist_innen die Bäuerinnen und Bauern von dem Land.
Nur wenige Tage nach dem Einsatz besetzten sie die Flächen erneut. Seitdem spricht die Polizei von Guerilla-Gebiet. Angesichts dieser Wahrnehmung scheint der Mord an den drei Kleinbauern bei der jüngsten Räumung wie ein Racheakt der Polizei. Man könnte aber auch vermuten, lokale Regierung und Großgrundbesitzer_innen wollten die stärker werdende Bewegung im Keim ersticken. Denn mittlerweile ist die Liga dos Camponeses Pobres die größte soziale Bewegung im Bundesstaat, die für die Agrarreform, also die Umverteilung und Vergabe von brach liegendem Land an verarmte Kleinbäuer_innen, eintritt und selbst von einer „Agrarrevolution“ spricht. Heute unterhält sie in Rondônia etwa 30 Camps, die sie „revolutionäre Gebiete“ nennt.
Die Landlosen leben in einfachen Behausungen aus Holz und mit Dächern aus Palmenwedeln, ohne fließendes Wasser, Strom oder Handyempfang (Foto: Fernando Martinho/Repórter Brasil)
Land für Rinder statt für Menschen
Erst im April weitete die Liga ihre Besetzungen in der Region aus. Rund 200 landlose Familien besetzten etwa 1.000 ha braches Land und bauten das nun geräumte Camp Ademar Ferreira. Die Flächen liegen auf der 20.000 ha großen Rinder-Ranch Santa Carmem, die der mächtigen Unternehmerfamilie Leite gehört. Diese beliefert den weltgrößten Fleischkonzern JBS mit Rindern. Gleichwohl die Kleinbäuer_innen ausschließlich braches Agrarland besetzten, das nicht der Viehzucht diente, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Als Angestellte der Ranch im Mai 1.200 Rinder zum Schlachthof der JBS in Porto Velho, der Hauptstadt von Rondônia, transportierten, begleitete die Polizei den fünftägigen Abtransport mit einem Großaufgebot. Tagelang knatterten Hubschrauber der Polizei über dem Gebiet.
Seitdem hat der Fleischkonzern JBS seine Geschäfte mit der Farm vorläufig eingestellt. Man warte auf eine Stellungnahme der Bundesstaatsanwaltschaft (MPF) zu dem Konflikt, ließ der Konzern wissen. Der multinationale Konzern hat nach Jahren des Wegschauens bei sozialen Konflikten, in die Zuliefererbetriebe involviert waren, gelernt und seine unternehmerischen Richtlinien verschärft. Nachrichten über Fleischproduzent_innen, die Menschen unter Sklaverei ähnlichen Bedingungen beschäftigen, oder über Rinder aus Konfliktgebieten sind schlecht für das internationale Geschäft. „Die Vorgaben des MPF verbieten den Erwerb von Tieren von Landbetrieben, die in erster Instanz wegen des Gebrauchs von Gewalt in Konflikten verurteilt sind“, so JBS. Schätzungsweise 11,7 Mio. Rinder weiden in Rondônia. Sie bilden neben Soja das ökonomische Rückgrat des Bundesstaates. Der Großteil ist für die Steakverarbeitung und den internationalen Markt bestimmt.
Bei der Räumung des Landlosen-Camps schoss die Polizei auf Autos, um sie unbrauchbar zu machen (Foto: Abrapo/Divulgação)
Zuvor hatten Anwälte der Familie Leite dem Gericht glaubhaft gemacht, dass im Zuge der Landbesetzung 40 mit Gewehren und automatischen Pistolen bewaffnete Personen die Beschäftigten ihrer Ranch zum Verlassen des Gebietes gezwungen hätten. „Die Angestellten hatten nur ihre Kleidung auf dem Körper, als sie entkamen“, so die Anwälte vor Gericht. Ferner bezichtigten sie die Mitglieder der Liga, bei der Besetzung Einrichtungen und Fahrzeuge angezündet, Zäune zerstört und zwei Traktoren gestohlen zu haben. Gegenüber dem landesweiten Fernsehsender Canal Rural erhob ein Mitglied der Familie Leite schwere Anschuldigungen gegenüber den Landlosen. „Das ist kein Kampf für die Agrarreform, das ist ein terroristischer Akt“. Gleichwohl das Bild der 40 bewaffneten „Terroristen“ wenig glaubhaft war, tat die Anschuldigung ihren Zweck. Die Landlosen wurden in den Medien zu Gefährdern der Profite der Fleischindustrie aufgebaut und jeder Polizeieinsatz schien gerechtfertigt.
Massiver Anstieg der Landkonflikte unter Bolsonaro
Um weitere Landbesetzungen zu verhindern, baten die Großgrundbesitzer_innen aus Rondônia Präsident Jair Bolsonaro um Hilfe, der umgehend die Nationalgarde entsandte. Zwischen dem brasilianischen Staatsoberhaupt und dem Gouverneur des Bundesstaates, Polizeileutnant Marcos Rocha (PSL), besteht eine große politische Nähe. Ihre Politik ist in allen Belangen reaktionär und richtet sich gegen die an sich verfassungsrechtlich geschützte Agrarreform. Der Bundesstaat Rondônia stimmte bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 am drittmeisten für Bolsonaro. Den Vertrauensbeweis zahlt Bolsonaro nun mit Sicherheitskräften und einer rigorosen Politik gegen bäuerliche Bewegungen zurück.
Das spiegelt sich im deutlichen Anstieg von Landkonflikten und Toten seit Bolsonaros Amtsantritt im Januar 2019 wider. Seitdem nahmen Konflikte um Land um 57,6 Prozent zu. Allein im Jahr 2020 kam es in Brasilien zu 2.054 Auseinandersetzungen zwischen Kleinbäuerinnen und -bauern und Indigenen auf der einen Seite und Großgrundbesitzer_innen und Holzfällern auf der anderen Seite. Insgesamt waren 914.144 Personen in die Konflikte involviert und 18 Menschen im Kampf um Land ermordet, berichtet die Menschenrechtsorganisation Katholische Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra, CPT), sie seit 1985 die Zahlen erhebt.[2]
Die Toten von Rondônia sind weder ein Zufall noch ein Einzelfall. Sie sind die zu erwartbaren Folgen einer Kriminalisierung der sozialen Bewegungen durch lokale Eliten und die brasilianische Regierung.
Autor: Daniel Camargos, Repórter Brazil
Übersetzung/Redaktion September 2021: Mario Schenk
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Der Originaltext erschien am 17.08.21.
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des
[1] https://resistenciacamponesa.com/luta-camponesa/berreiro-e-repressao-contra-a-lcp-nao-vao-parar-a-luta-pela-terra/
[2] https://www.redebrasilatual.com.br/cidadania/2021/05/conflitos-agrarios-cresceram-576-desde-o-inicio-do-governo-bolsonaro/ (eingesehen am 09.09.2021)