Gewerkschaftsbewegung weltweit: Ukraine - Das Schlimmste verhindern
20.06.2022 I Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine steht auch das Arbeitsrecht unter Druck – von der eigenen Regierung. Ein baldiger EU-Beitritt könnte helfen, sagt ein Jurist.
Die Schlagwörter heißen »Entsowjetisierung«, »Optimierung der Arbeitsgesetzgebung«, »Abschied vom kolonialen Erbe« und »Liberalisierung«. Ausgegeben werden sie von der ukrainischen Regierung – und sie bedeuten nichts anderes als dass Arbeitnehmer_innenrechte unter Druck geraten und aufgeweicht werden. Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schreiben die Gesetzgeber in Kiew das Narrativ, dass wer sich vom sowjetischen Erbe trennen wolle, auch eine andere Arbeitsgesetzgebung brauche.
Schon am 23. März unterzeichnete Präsident Wolodimir Selenski das Gesetz über das Arbeitsrecht im Krieg. Es berechtigt Arbeitgeber, Kollektivverträge gänzlich oder teilweise aufzuheben. In systemrelevanten Bereichen dürfen sie die wöchentliche Arbeitszeit außerdem von 40 auf 60 Stunden erhöhen. Besonders ärgerlich findet Jura Samojlow, Vorsitzender der Unabhängigen Gewerkschaft der Beschäftigten in Metallindustrie und Bergbau (NPGU) in Kriwij Rih, Selenskis Heimatstadt, dass das Gesetz im Turboverfahren und ohne Aussprache im Parlament verabschiedet wurde. »90 Prozent der Abgeordneten hatten nicht die Zeit, den Gesetzestext zu lesen«, sagte Samojlow den Nord Süd News.
Die NGO Sozialni Ruch (Soziale Bewegung) hat auf ihrer Website eine schwarze Liste von Arbeitgebern erstellt, die jetzt schon von der Möglichkeit Gebrauch machen, Tarifverträge einseitig ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen. Darin findet sich unter anderem das Atomkraftwerk Tschernobyl, die Eisenbahn, das Hafenwerk Odessa und die Kiewer U-Bahn.
Ein neuer Gesetzentwurf mit der Nummer 5371, der die erste Lesung im Mai passiert hat, geht noch weiter. Er betrifft 73 Prozent aller Beschäftigten in der Ukraine, nämlich alle, die in kleinen und mittleren Unternehmen arbeiten. Vitaliy Dudin, Arbeitsrechtsexperte und Vorsitzender der Sozialnij Ruch, sieht das Vorhaben als schweren Angriff auf die Sozialpartnerschaft. Und der Arbeitsrechtler Georgi Sandul kritisiert auf opendemocracy.net, dass der Gesetzgeber Arbeitgebern damit weitere Kündigungsgründe in die Hand gebe.
Letztlich werde das Gesetz 5371 die Kollektivverträge abschaffen und durch individuelle Verträge ersetzen, erklärt NPGU-Chef Samojlow. Auch Dudin geht davon aus, dass die Gewerkschaften mit Inkrafttreten dieses Gesetzes weiter an Bedeutung verlieren werden. Und das sei gefährlich: »Derartige Gesetze, die die Rechte von Arbeiter_innen und Gewerkschaften einschränken, gefährden den sozialen Frieden. Und während wir Arbeitenden bei steigenden Preisen häufig unseren Lohn erst sehr spät ausbezahlt bekommen, sitzen die Besitzer der Bergwerke, die Oligarchen, im sicheren Ausland, kommen nur ganz selten im Werk vorbei, machen dabei ein Selfie vor dem Betrieb, umringt von Soldaten – und sind dann wieder weg«, so Samojlow. Das mache die Arbeiter_innen wütend.
Auch Dudin sieht den sozialen Frieden gefährdet. Die Gewerkschafter_innen, sagt der Jurist, seien wohl auch deswegen in der Vergangenheit so ruhig gewesen, weil sie sich einen derartigen Angriff auf ihre Rechte nicht hätten vorstellen können. Dabei sind die Gewerkschaften dem Staat in der aktuellen Situation gegenüber ausgesprochen loyal. Sie übernehmen Aufgaben, die eigentlich dessen Sache sind, stellen ihre Sanatorien für Binnenflüchtlinge zur Verfügung, die Lehrergewerkschaften helfen bei der Unterbringung von Geflüchteten in Schulen, Gewerkschaftsmitglieder, die bei der Bahn oder Busunternehmen Menschen auf der Flucht oder Hilfsgüter transportieren, machen derzeit sehr viele Überstunden.
»Und außerdem stehen wir noch unseren Kumpels in den besetzten Gebieten mit Rat und Tat zur Seite«, erklärt Samojlow. Wie genau diese Unterstützung aussieht, will er indes nicht verraten, weil der fürchtet, dass einige Informationen seine Kolleg_innen gefährden könnten.
Arbeitsrechtler Dudin setzt auf Europa. Wenn die Ukraine in die Europäische Union wolle, sagt er, müsse sie sich auch an das dort geltende Arbeitsrecht halten. Man müsse sich das Bestreben der Ukraine nach einem EU-Beitritt also zunutze machen und ein Moratorium der Gesetze fordern. »Das wäre doch im Geist einer Integration nach Europa«, so Dudin im Gespräch mit opendemocracy.net.
Leicht wird der Kampf nicht sein. Das Kriegsrecht erlaubt weder Demonstrationen noch andere öffentliche Veranstaltungen. Der Krieg zehrt auch an den Gewerkschaften, viele Funktionär_innen und Mitglieder sind an der Front, gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass die Ukraine seit Beginn des Krieges 4,8 Millionen Arbeitsplätze verloren hat – eine Zahl, die bei anhaltenden Kämpfen auf 7 Millionen steigen könnte. Zu Beginn des Krieges gab es etwas mehr als 16 Millionen offizielle Arbeitsplätze in der Ukraine.
Autor: Bernhard Clasen ist Journalist, er lebt in Kiew und Mönchengladbach