Gewerkschaftsbewegung weltweit: Positionen - Klare Kante gegen den Krieg
20.06.2022 I Auf dem 22. Ordentlichen DGB-Bundeskongress nehmen internationale Themen einen herausragenden Platz ein. Schließlich geht es auch um eine neue Herausforderung: den russischen Überfall auf die Ukraine
Den wenigen geladenen internationalen Gästen fiel es sofort auf: Im großen Sitzungssaal des Estrel-Hotels in Berlin-Neukölln herrschte eine Atmosphäre des Friedens und der Harmonie. Zu groß war der Druck der Außenwelt, als dass sich die Delegierten des 22. Ordentlichen Bundeskongresses (OBK) des DGB mit kleinlichen Debatten aufhalten oder gar auseinanderdividieren lassen wollten. Die noch immer nicht beendete Corona-Pandemie tritt seit dem brutalen, völkerrechtswidrigen Überfall russischer Truppen auf die Ukraine nahezu in den Hintergrund. Die friedenspolitische DNA der Kongressdelegierten erforderte eine Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden in einer Intensität, die sich die Mehrheit drei Monate vor dem Kongress so nicht hatte vorstellen können.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine
Für die Kongressdynamik war deshalb die Debatte richtungsweisend, die den Initiativantrag I001 betraf. »Krieg gegen die Ukraine sofort beenden. Transformationskurs halten, wirtschaftliche und soziale Kriegsfolgen abfedern. Rahmenbedingungen für Frieden und Sicherheit in Europa neu bewerten« war dessen Titel. Der Fokus lag darauf, wo Gewerkschaften, Bundesregierung, die Europäische Union und ihre transnationalen, transatlantischen Verbündeten unmittelbar gefordert sind, um den Menschen in der Ukraine zu helfen und ihnen humanitäre Unterstützung zukommen zu lassen. Gleichzeitig wird im Antrag die Anforderung beschrieben, die schweren sozialen, ökonomischen Folgeschäden des Krieges und der gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen gegenüber den Beschäftigten in Deutschland abzuwenden. Die Frage, wie eine künftige Sicherheitsordnung in Europa und der Welt aussehen kann, wie Frieden wiedererlangt und dauerhaft gesichert werden kann, erfordert einen intensiveren Diskussionsprozess. Nur so kann die sich ändernde Lage neu bewertet werden, bestehende Positionen müssen kritisch geprüft und Kursbestimmungen gegebenenfalls geändert werden. Aus Aktualitätsgründen war der Antrag erst knapp eine Woche vor Kongresseröffnung redaktionell fertiggestellt worden.
Fazit der weitgehend konsensuellen Debatte: Der DGB bekundet seine Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Er verurteilt diesen völkerrechtswidrigen Akt militärischer Gewalt und die in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen. Für eine rasche Aufnahme und eine Integration der Geflüchteten aus der Ukraine muss gesorgt werden. Schließlich skizziert der Antrag zentrale Fragen der sicherheits- und friedenspolitischen Herausforderungen. Die bisherige Positionierung wurde bekräftigt, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO abzulehnen und einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf zu verhindern. Allerdings hält der DGB eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr für geboten, eine Orientierung an abstrakten Summen aber nicht für sinnvoll.
Soziales Europa
Erstmals seit 20 Jahren beschäftigte sich der OBK mit den Themen Europa und Globalisierung in einem eigenen Antragsblock mit vier eigenständigen Anträgen. Der Leitantrag »Solidarisch zusammenstehen: Für ein soziales Europa als Motor für eine faire Globalisierung« setzt den Rahmen für die zukünftige Ausrichtung der europäischen und internationalen Gewerkschaftspolitik des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften. Darin formuliert sind die großen aktuellen Herausforderungen, vor denen Europa im multilateralen Kontext steht, und wertebasierte gewerkschaftliche Kernforderungen für ein soziales und souveränes Europa, das als einziger Wirtschaftsraum den Gleichschritt von sozialer und wirtschaftlicher Integration postuliert. Dieses Europa steht für Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, eine sozialökologische und digitale Transformation im Arbeitnehmer_inneninteresse, und eine Wirtschafts- und Währungsunion, die eine wirtschaftliche und soziale Konvergenz der Mitgliedstaaten ermöglicht und nicht behindert. Neue Forderungen betreffen hier die Themenfelder Arbeit und Soziales, eine europäische Asylpolitik und die Verantwortung Europas in der Welt, die zum Motor einer fairen globalen Ordnung wird.
Diese Oberthemen werden in den zwei Anträgen des Bundesvorstandes »Soziale Rechte in Europa stärken« und »Globalisierung menschenwürdig und fair gestalten« weiter ausdifferenziert und konkretisiert. Im Europaantrag werden die Webfehler der Europäischen Union thematisiert. Nach wie vor steht den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarktes kein gleichwertiger Schutz der Sozial- und Arbeitsrechte für seine Beschäftigten sowie der industriellen Beziehungen zur Verfügung. Gerade wenn die Wirtschaft wie in der Corona-Krise zum Stillstand kommt oder wegen des Ukrainekrieges unsicheren Zeiten entgegensieht, ist eine entschlossene Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte dringend geboten. Der gewerkschaftliche Anspruch, den sozialen Zusammenhalt der Europäischen Union zu stärken, wird in der Forderung nach einem Sozialen Fortschrittsprotokoll in den Europäischen Verträgen untermauert. Der gewerkschaftliche Handlungsbogen spannt sich von der Forderung nach armutsfesten Mindestlöhnen über Stärkung der Tarifverträge und Tarifbindung durch die Zulässigkeit sozialer Kriterien im Vergabe- und Beihilfenrecht, Arbeitslosenrückversicherung und EU-Mindeststandards für Arbeitslosenversicherung, hin zur Grundsicherung sowie Verstetigung des SURE-Instruments zur Absicherung des Kurzarbeitergeldes. Als Antwort auf die Pandemie wird die Entwicklung einer krisenfesten Gesundheitsunion gefordert. Neue Beschäftigungsformen durch mobiles Arbeiten und Digitalisierung bedürfen einer europäischen Antwort, wie in Zukunft die Mitbestimmung verbessert, sozialer Dialog modernisiert sowie faire Mobilität und Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit gesichert werden. Schließlich wird eingefordert, dass die Europäische Union Motor der Gleichstellung und Antidiskriminierung wird.
Faire Globalisierung
Der europäische Bezugsrahmen bleibt auch im Globalisierungsantrag wichtiger Referenzpunkt. Darin setzt sich der DGB für eine friedliche, menschenwürdige und faire Globalisierung ein. Bausteine für die internationale Arbeit und Gewerkschaftszusammenarbeit sind: die Forderung nach Sozialschutz für alle weltweit und für nachhaltige globale Lieferketten. Was auf Bundesebene mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bereits geschafft wurde, muss auf europäischer und internationaler Ebene fortgeführt werden. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt in der internationalen Gewerkschaftsarbeit ist die Stärkung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und ihrer internationalen Arbeits- und Sozialstandards. Eng damit verbunden ist die Forderung nach einem gerechten Welthandel, der Arbeits- und Sozialstandards genauso in den Blick nimmt wie nachhaltiges Wirtschaften.
Erstmals definiert wird ein neuer Gewerkschaftsansatz in der Entwicklungszusammenarbeit. Deutschland ist eines der größten Geberländer. Die Ausgabenstruktur konzentriert sich allerdings hauptsächlich auf die Wirtschaftsförderung. Wirtschaftliche Entwicklung muss aber mit dem Ausbau von Sozialstrukturen und damit von Gewerkschaften einhergehen, um nachhaltig Wohlstand zu schaffen. Die Forderung nach einer europäischen Antwort auf neue geopolitische Herausforderungen sowie zum System der Global Governance definiert die Auseinandersetzung Demokratie versus Autoritarismus. In dieser neuen geopolitischen Lage muss Europa sich mit seinem Modell von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in dieser systemischen Konkurrenz selbst behaupten.
Der Kampf für Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte überall auf der Welt wird als integraler Bestandteil eines geeinten und souveränen Europas gesehen, das den sozialen Fortschritt als Bedingung von wirtschaftlichem Fortschritt definiert und sich auch gegenüber dem US-amerikanisch geprägten Verständnis einer radikalen Marktliberalisierung sichtbar abhebt.
Der Autor: Andreas Botsch leitet die Abteilung Europa und Internationales im DGB Bundesvorstand