Brasiliens Regierungsagenda - Zugleich ultraliberal und rechtsextrem
Verstoß gegen Gewerkschaftsrechte, Arbeits- und Rentenreform, Entwaldung: Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro ist dabei, die Demokratie auszuhebeln und dem Land seine Zukunft zu nehmen. Die Gewerkschaften kämpfen für nicht weniger als den Erhalt der Zivilisation.
Der Autor Antonio Lisboa ist Sekretär für internationale Angelegenheiten der CUT – Brasilien. Der Artikel wurde im Dezember 2019 in unserer Broschüre Gewerkschaftsrechte weltweit (2019) veröffentlicht.
Seit dem 1. Januar 2019 hat sich Brasilien grundsätzlich verändert. Den Anfang hatte Michel Temer davor schon gemacht und Präsident Jair Bolsonaro ist nun dabei, den von Temers unrechtmäßiger Interimsregierung begonnenen ultraliberalen und rechtsextremen Umbau tatsächlich zu vollenden. Auf Kosten von Demokratie, Arbeitsrechten und Umwelt.
Dabei schien Brasilien Mitte des vergangenen Jahrzehnts endlich seine wahren Potenziale wiederentdeckt zu haben: eine expressive und lebendige kulturelle Vielfalt, eine enorme Biodiversität, riesige Naturschätze, vielfältige Energiequellen und einen relevanten Industriepark. Und das Land war dabei, diese Grundlagen für den Aufbau der Nation zu nutzen.
Die Regierungen von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und danach Dilma Rousseff förderten wichtige Sozialreformen, die Armut und Ungleichheit minderten. 20 Millionen Arbeitsplätze entstanden, 40 Millionen Brasilianer_innen gelang der soziale Aufstieg.
Dazu beigetragen hatte die Umsetzung eines neuen Modells der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung. Es räumte der Stärkung des Binnenmarkts Vorrang ein, ohne dabei die historischen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Brasiliens zu den am weitesten entwickelten Ländern aufzugeben. Es intensivierte die Integration zwischen den Ländern Lateinamerikas, Afrikas sowie mit den anderen so genannten BRICS-Staaten, also Russland, Indien, China und Südafrika. Im Mittelpunkt stand die uneingeschränkte Achtung der multilateralen Organisationen und Menschenrechte. Im Dezember 2009 verließ Lula mit einer Zustimmung von 80 Prozent der Brasilianer_innen die Präsidentschaft und war, wie der Historiker Perry Anderson sagte, »der erfolgreichste Politiker seiner Zeit«. Rousseff wird Präsidentin und führt Lulas Politik fort.
Das Kapern der Proteste durch konservative Kreise
Aber diese wichtige Episode der sozialen Reformen dauert nur kurze Zeit. Im Juni 2013 breitet sich eine Welle von Protesten über Hunderte von brasilianischen Städten aus und mobilisiert Millionen von Menschen zu den größten Straßendemonstrationen seit der Amtsenthebungsbewegung gegen Präsident Fernando Collor im Jahr 1992. Die Demonstrierenden kämpfen anfangs gegen die Erhöhung der Busfahrpreise, dann für mehr und bessere öffentliche Dienste, eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung und demokratische Reformen. Dann allerdings beanspruchen konservative Kreise und Medien die Deutungshoheit für sich und erringen nach und nach die Hegemonie über den Diskurs. Eine Vielzahl von unzusammenhängenden und oft widersprüchlichen Forderungen gewinnt an Stärke und steht größtenteils im Widerspruch zur Regierung von Rousseff. Die Präsidentin verliert mehr als die Hälfte ihrer 60-prozentigen Zustimmung und gerät in eine permanente Krise, die trotz einer knappen Wiederwahl im Oktober 2014 im April 2016 im Parlamentsputsch enden wird.
Diese Abfolge von Ereignissen kann nur durch konjunkturelle und historische Faktoren erklärt werden, die gleichzeitig dialektisch als wirtschaftliche und politische, institutionelle und kulturelle Ursachen und Auswirkungen und als Tragödie und Farce betrachtet werden können. Einige dieser Faktoren sind die Auswirkungen der globalen Krise von 2008 und das Tempo der seit 2003 durchgeführten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. Außerdem sind es die Fragilität der Institutionen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit und das unzureichende Engagement der nationalen Rechten für Demokratie und Menschenrechte. Die gravierende Wirtschaftskrise, die sich seit 2014/2015 noch verschärft, trägt bei sowie die sogenannte Operation Lava Jato and Lawfare gegen den ehemaligen Präsidenten Lula. Er ist wegen Korruption zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden, dementiert jedoch die Anschuldigungen und verweist auf eine politische Verschwörung. Fest steht, dass die Inhaftierung Lula als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2018 verhinderte und damit wahrscheinlich zur Wahl Bolsonaros beitrug. Hinzu kommen geopolitische Interessen, insbesondere nach der Entdeckung der Ölfelder des Pré-Sal und der internationale Aufstieg der extremen rechten Bewegungen.
Symbiose von Markt- und rechten Interessen
In jedem Fall ist die Wahl von Bolsonaro zweifelsohne das schwerwiegendste Kapitel in diesem gesamten Prozess. Jair Bolsonaro, Präsident der Republik, ist ein militärischer Verteidiger der schlimmsten Dinge unserer Geschichte: drei Jahrhunderte Sklaverei, struktureller Autoritarismus, eine lange Militärdiktatur, die von Folter und Mord geprägt ist und systematische Missachtung der Würde des Menschen. Kurz gesagt, Bolsonaro vereint einen Drang nach Zerstörung und Tod, der sich durch die gesamte brasilianische Gesellschaft zieht. Er hat sich in seiner fast 28-jährigen parlamentarischen Tätigkeit einen Namen gemacht, indem er die Menschenrechte systematisch angreift und eine endlose Reihe von Macho-, frauenfeindlichen, rassistischen und LGBTophoben Äußerungen von sich gibt.
Zwischen der 2013 beginnenden Krise und der Wahl von Bolsonaro besteht eine klare Linie der Kontinuität. In Brasilien besteht eine Symbiose zwischen der extremen Rechten und den Interessen der Finanz- und Kapitalmärkte. Der sogenannte Markt unterstützt Bolsonaro.
Das Arbeitsreformgesetz
Ein Beispiel für dieses ultraliberale Programm ist das von der Regierung Temer im Jahr 2017 verabschiedete Arbeitsreformgesetz 13.467/2017. Es verspricht, die Arbeitsbeziehungen zu modernisieren, Arbeitsplätze zu schaffen, mehr und bessere Tarifverhandlungen zu fördern und Informalität zu bekämpfen. Keines dieser Versprechen wurde erfüllt. Ganz im Gegenteil. Genau diese Reform ist dafür verantwortlich, dass Brasilien auf die Liste der Länder mit den schwerwiegendsten Verstößen gegen die Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gesetzt wurde. Brasilien wird vorgeworfen, die Übereinkommen 98 und 154 nicht einzuhalten, also die Konventionen zur Vereinigungsfreiheit und dem Recht und der Förderung von Kollektivverhandlungen.
Ebenso schwer wiegen die Anschuldigungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IAKMR) , die in ihren »Vorbemerkungen zum Besuch der IAKMR in Brasilien vor Ort« die Arbeitsreform missbilligt, weil »sie Arbeitssituationen unter Bedingungen bevorzugt, die der Sklaverei entsprechen«.
Laut dem Wirtschaftsforschungsinstitut Fundação Instituto de Pesquisas Econômicas fanden 2018 nur noch etwas mehr als halb so viele Tarifverhandlungen statt wie 2017. Hinzu kommt, dass einzelne Arbeitnehmende sich gezwungen sehen, auf ihre tarifvertraglich garantierten Rechte zu verzichten. Eine Vereinbarung hebt Klauseln von Übereinkommen auf, die für die Arbeitnehmenden vorteilhaft sind. Es gibt zunehmend prekäre Verträge oder solche die versuchen, das eigentliche Arbeitsverhältnis zu verschleiern.
Die Arbeitsreform bedeutet damit eine Rückkehr zu den Arbeitsverhältnissen vor 100 Jahren und stellt ein Scheitern des Kampfes für soziale Gerechtigkeit dar. Derzeit wird im Nationalkongress die sogenannte Provisorische Maßnahme 881/19 bearbeitet, die den Arbeitnehmenden weitere Rechte entziehen soll. Auch die Rente ist unter Beschuss. Der Reformvorschlag der Regierung Bolsonaro sieht vor, den Zugang drastisch zu beschränken.
Die Rentenreform
Der größte Gewerkschaftsverband des Landes, die CUT Brasilien, betrieb zusammen mit anderen Gewerkschaftsverbänden und Sozialbewegungen mühsame Aufklärungsarbeit im Parlament und startete eine Reihe von Initiativen, die gegen die Rentenreform mobilisieren. Dazu gehörten die »vereinten Demonstrationen aller Gewerkschaftsverbände am 1. Mai«, »der Generalstreik gegen die Rentenreform« am 14. Juni, an dem in 375 Städten Aktionen für das Recht auf Rente stattfanden und der »Nationale Tag des Kampfes gegen die Rentenreform« am 13. August.
Als (Teil-) Erfolg dieser Mobilisierungen wurden einige der gravierendsten Punkte des Vorhabens aus dem Vorschlag gestrichen, jedoch geht die Rentenreform weiterhin auf Kosten der Arbeiterklasse: Sie verlängert das Mindestalter drakonisch, sie sieht übermäßig schnelle Übergangsregelungen vor; sie verlängert die Mindestbeitragszeit, die erforderlich ist, um Anspruch auf Rentenleistungen zu haben, sie verringert den Rentenwert. Selbst diejenigen, die es schaffen, Rente zu beziehen, bekommen meist so wenig, dass sie damit nur prekär leben können.
Das rechtsextreme Projekt
Und dieses ultraliberale Projekt flankiert Bolsonaro zusätzlich mit einem rechtsextremen: Seine kurze Amtszeit zeichnete sich durch ständige Angriffe auf Homosexuelle und andere Minderheiten aus. Seine Reden und Interviews sind durchzogen von Beleidigungen und Angriffen. Künstler_innen und Kulturschaffende müssen mit Zensur rechnen, insbesondere bei Filmen mit LGBTI-Themen. Staatsanwaltschaft und andere Kontrollorgane sind zu korrupt, als dass von ihnen Unterstützung gegen den Präsidenten zu erwarten wäre. Die Opposition muss sich selbst mit Drohungen auseinandersetzen, der Präsident der Brasilianischen Anwaltskammer mit direkten Angriffen. Das Gedenken an die Ermordeten der Militärdiktatur wird gestört. Vetternwirtschaft hat sich breit gemacht. Unter anderem versuchte Boslonaro, einen seiner Söhne zum Botschafter Brasiliens in den Vereinigten Staaten zu ernennen. Die öffentlichen Mittel für Bildung wurden gekürzt, die Freiheit der Professor_innen und die Autonomie der Bundesuniversitäten in Frage gestellt.
Und auch die Umweltzerstörung hat an Fahrt aufgenommen: historisch viele Agrochemikalien wurden zugelassen und ausgebracht, Umweltschutz wird völlig missachtet. Weltweit Empörung hervorgerufen hat die immens zugenommene Entwaldung im Amazonasgebiet. Die Waldzerstörung im Juli stieg um 278 Prozent gegenüber dem gleichen Monat 2018. Das hat das ,Monitoring des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (INPE) gezeigt, es ist der stärkste Anstieg seit 2014. Als Reaktion auf die Veröffentlichung dieser Indizes entließ Bolsonaro den Präsidenten des INPE, Ricardo Galvão – einen weltweit für seine hervorragende wissenschaftliche Arbeit anerkannten Forscher.
Anstatt die Verantwortung für die Entwaldung zu übernehmen, greift Bolsonaro lieber Deutschland und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sowie Norwegen an. Denn noch im August sperrten Deutschland und Norwegen neue Mittel für den Amazonasfonds. Die Fördermittel fließen in nicht rückzahlbare Investitionen für Maßnahmen, die die Entwaldung verhindern, überwachen und bekämpfen sollen und den Schutz und die nachhaltige Nutzung des legalen Amazonasgebietes zum Ziel haben.
Bolsonaro wurde beim G7-Gipfel im französischen Biarritz im August 2019 von führenden Politiker_innen der Welt heftig kritisiert. Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte, dass Bolsonaro bezüglich seiner Verpflichtungen gegenüber der Umwelt »gelogen« habe und kündigte an, dass Frankreich sich unter diesen Bedingungen gegen das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur stellen werde. Die deutsche Kanzlerin Merkel, die ebenfalls die Umweltpolitik der brasilianischen Regierung kritisierte, teilte Macrons Besorgnis angesichts der Brände. Sie sagte jedoch, dass der Stopp des Handelsabkommen auch nicht dazu beitragen würde, die Waldvernichtung zu verringern.
Fazit: Es geht um den Kampf für die Zivilisation
Bolsonaro stellt die größte Bedrohung für die brasilianische Demokratie seit der Redemokratisierung des Landes in den 1980er Jahren dar und ist ein abschließender Test für das, was von den Überresten unserer Institutionen übrig ist. Sein ultraliberales Projekt – der Abbau des Staates, Privatisierungen und Angriffe auf die nationale Souveränität – sowie seine autoritäre Agenda der extremen Rechten und der Verachtung der Zivilisation und der Menschenrechte hat zum Ziel, die demokratische Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie kennen, zu zerstören. Brasilianische Arbeiter_innen und ihre Organisationen, wie die CUT, kämpfen nicht »nur« für Demokratie. Sie kämpfen für die Zivilisation. --
Unter den Top 10 der schlimmsten Länder
Laut dem Globalen Rechtsindex 2019 des IGB gehört Brasilien derzeit zu den 10 schlimmsten Ländern der Welt, was die Verletzung von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten angeht. Zur Zerstörung des Tarifwesens schreiben die Autor_innen: »Seit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 13.467 ist das gesamte Tarifverhandlungssystem in Brasilien zusammengebrochen. Mit dem neugefassten konsolidierten Arbeitsgesetz wurde das generelle Prinzip eingeführt, dass Tarifverträge Vorrang vor Gesetzen haben und es somit möglich ist, gesetzliche Schutzbestimmungen mittels Tarifverhandlungen zu umgehen, abgesehen von einigen in der Verfassung garantierten Arbeitnehmerrechten. Knapp zwei Jahre später hat das Gesetz angesichts eines drastischen Rückgangs der im Jahr 2018 abgeschlossenen Tarifverträge um 45 Prozent dramatische Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen gehabt. Zudem besteht unter den Arbeitgebern die beunruhigende Tendenz, Arbeitnehmerrechte abzusprechen und auf betrieblicher Ebene auf geringere Löhne zu drängen.«