„Das Wachstums-Paradigma funktioniert in der Lebensmittelbranche nicht“
Kampagne 'Mensch vor Marge'. Protest vor der Nestlé-Zentrale in der Schweiz 2018. Foto: Gewerkschaft NGG
25.08.2021 I Peter Schmidt ist Referatsleiter für Internationales bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA). Das DGB-Bildungswerk hat mit ihm über Ausbeutung in der europäischen Lebensmittelwirtschaft, die Antwort der Gewerkschaften auf den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und das Mercosur-Abkommen gesprochen.
DGB-Bildungswerk: Peter, in deutschen Supermärkten stehen zunehmend regionale Produkte, viele biologisch hergestellt. Dennoch hat die deutsche Agrar- und Lebensmittelindustrie einen schlechten Ruf. Wie ist das zu erklären?
Das öffentliche Bild ist stark von der industriellen und wenig von der bäuerlichen Landwirtschaft geprägt. Dabei lassen sich die Agrarproduzent_innen nicht über einen Kamm scheren, denn der Allgäuer Bio-Bauer mit zehn Kühen produziert anders als der Landwirt aus Mecklenburg-Vorpommern mit 4.000 Tieren. Zum schlechten Ruf der Agrarindustrie haben vor allem das aggressive Auftreten der Agrarlobby mit ihrer konservativen Haltung und die katastrophalen Umstände in einigen Bereichen unserer Landwirtschaft beigetragen. Sie praktizieren Lohndumping und halten an ihrer industriellen Massentierproduktion fest, die sie unter allen Umständen aufrechterhalten wollen. Die industrielle Produktion von Lebensmitteln ist nicht per se schlecht und in der Masse durchaus notwendig. Entscheidend sind aber die Fragen, was Land und Böden vertragen und wie viel Fairness in der Lebensmittelversorgungskette wir wollen. Aktuell gehen die industriellen Lebensmittelhersteller und der Einzelhandel mit hohen Renditen aus dem System raus. Sie beuten die Beschäftigten und die Umwelt am meisten aus. Gleichzeitig kämpfen die Landwirte ums Überleben, obwohl die EU jährlich rund 60 Mrd. Euro in dieses System einzahlt, vor allem um Landwirte zu unterstützen. Dennoch verloren wir in Deutschland in den letzten fünf Jahren pro Jahr etwa 3.000 Landwirte. Zwar wächst der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche in Deutschland, doch mit einem Anteil von 9,6 Prozent an der Anbaufläche sind wir weit entfernt vom 25 Prozent-Ziel der EU-Kommission.
Du sprichst von fehlender Fairness in der Lebensmittelindustrie. Warum ist dieser Sektor so anfällig für unfaire Praktiken?
Dieser Bereich ist so anfällig für Lohn- und Gewinnungleichheiten, weil die Macht sehr ungleich verteilt ist. Während in Deutschland nur ein paar Konzerne des Einzelhandels entscheiden können, was in den Regalen steht und wie die Preisgestaltung aussieht, beobachten wir das in anderen Versorgungsketten nicht in so konzentrierter Form. Das führt zu Ungleichgewichten, die nicht ausbalanciert werden, und die schwächsten Glieder sind die Landwirte und die Beschäftigten. Das Problem ist, dass die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) darauf ausgerichtet ist, Lebensmittel so billig und so viel wie möglich herzustellen. Das führt unweigerlich zur Massenproduktion und lässt die wesentlichen Fragen außen vor, was und wie produziert wird. Gleichzeitig gibt es eine neoliberale Gesetzgebung, die sich nicht einmischen will; der Staat als regulierende Kraft soll nicht regulieren. Von diesem Vorsatz ist die Lebensmittelwirtschaft stärker betroffen als andere Sektoren. Die Folgen sind die miserable Entlohnung der Erntehelfer_innen und Lohndumping in der Fleischwirtschaft. Der Preiskampf zieht auch eine weniger nachhaltige Produktion nach sich.
Der Großteil der 60 Mrd. EU-Agrarsubventionen ist als Einkommenshilfe gedacht. Dennoch verdienen Landwirte durchschnittlich 40 Prozent weniger als in anderen Branchen. Wo fließen die EU-Milliarden im Endeffekt hin?
Das Geld landet zum allergrößten Teil schon bei den Landwirten. Man ist in der EU jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass die marktwirtschaftliche Produktionsweise die Versorgung der Bevölkerung am ehesten sichert. Doch die Notwendigkeit des steten Wachstums, die dem Kapitalismus innewohnt, funktioniert in der Lebensmittelbranche nicht. Denn der Mensch ist irgendwann satt, seine Bedürfnisse sind begrenzt. Die industrielle Produktion macht zwar die Produktion billiger, ist aber immer davon abhängig, dass die Nachfrage steigt. In Europa ist die Bevölkerung ausreichend mit Lebensmitteln versorgt und wächst nicht mehr. Dadurch entsteht extremer Druck auf die Preise, der an die Produzent_innen durchgereicht wird. Die Landwirte bekommen nicht mehr den Preis, den sie für das Überleben bräuchten. Größere Betriebe geben den Druck in Form von geringen Löhnen an die Beschäftigten weiter.
Die GAP verfolgt also eine verfehlte Ausrichtung. Sie müsste viel stärker fördern, dass die Landwirte nicht an der Massenproduktion, also pro Hektar, verdienen, sondern ein qualitatives Element einführen. Auch die jüngst verabschiedete Reform der GAP löst das Problem nicht. Stattdessen müsste die EU alles daransetzen, dass bis 2030 im Schnitt mindestens 25 Prozent der Flächen ökologisch bewirtschaftet und 50 Prozent weniger Pestizide eingesetzt werden, wie es die EU-Strategie Farm to Fork für einen Umbau der Landwirtschaft auch vorsieht. Das würde die Verhältnisse in der Fleischproduktion verbessern, die Nutzung der Flächen begrenzen und so Umwelt und bäuerliche Landwirtschaft stärker schützen.
Stattdessen will die EU mit ihrer Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Sektors stärken. Wer profitiert von dieser ‚Wettbewerbsfähigkeit‘? Der von dir genannte Allgäuer Bauer?
Der Allgäuer Bauer, der noch einigermaßen naturverbunden anbaut, hat davon gar nichts. Es profitieren die Großerzeuger, die auf Massentierhaltung setzen. Das sind die Konzerne der verarbeitenden Fleischindustrie wie Tönnies oder Wiesenhof in der Geflügelwirtschaft. In die paradoxe wirtschaftliche Not, die Welt versorgen zu wollen, hat sich die EU mit ihrer auf Wachstum gebauten Agrarpolitik selbst manövriert. Als sich die Grenzen des inner-europäischen Wachstums abzeichneten, erfanden Großproduzent_innen und EU das Narrativ, man sei für die Ernährung der Weltbevölkerung zuständig. Sie behaupten, die Menschen in Afrika oder Südamerika seien nicht in der Lage, sich zu ernähren. Das ist völliger Quatsch. Tatsächlich ist die Selbstversorgung mit Hühnern in vielen Ländern Afrikas erst durch die Flutung mit billigem Huhn aus europäischer Massentierhaltung zusammengebrochen. Viele Menschen verloren ihre Arbeit. Da stehen keine bösen Absichten hinter. Das ist beim Wachstum der Produktion zwangsläufig so, denn die Erzeugnisse müssen irgendwohin. Die EU-Außenpolitik ist nicht darauf ausgerichtet, den afrikanischen Ländern zu helfen, sondern hiesige Produzent_innen zu unterstützen, ihre Agrarprodukte zu verkaufen. Daran sieht man, dass dieses System krank ist.
Europa ist auf dem Weg in eine Investorenlandwirtschaft. Für Finanzanleger_innen sind Böden und Betriebe Spekulationsobjekte. Welche Probleme gehen damit einher?
Die Investoren haben die Lebensmittelwirtschaft entdeckt. Ob im Agrar- oder im verarbeitenden Bereich steigen sie derzeit mit Rendite-Erwartungen von 20 Prozent und mehr am Umsatz ein. Das einzige Programm, das die haben, um diesen Profit zu erwirtschaften, ist die Betriebe auszuquetschen. Arbeitsplätze fallen weg, Bereiche mit niedrigeren Renditen werden abgestoßen. Nestlé stieß sein Eisgeschäft ab, weil es damit „nur“ acht Prozent Gewinn machte.
Zudem bauen die Investoren einen indirekten Handlungsdruck auf die kleinen und mittelständigen Betriebe auf. Die bekommen Bankkredite nur noch mit einem Risiko-Aufschlag, weil sie „nur“ fünf bis sieben Prozent Rendite erwirtschaften und das aus Finanzsicht für den Lebensmittelbereich zu wenig ist. Die kleinen Betriebe müssen also zusätzliche Risikoaufschläge für das Kapital auf den Märkten zahlen.
Die NGG will mit der Kampagne „Mensch vor Marge“ auf diesen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus in der Ernährungsindustrie antworten. Was setzt sie dem entgegen?
Zunächst wollen wir die Kampagne auf europäischer und globaler Ebene vorantreiben. Allein aus deutscher oder nationaler Sicht kann das wegen der internationalen Abhängigkeit der Lieferketten nicht erfolgreich sein. Wir müssen unsere Kolleginnen und Kollegen in den multinationalen Konzernen darüber aufklären, welche Rolle sie in diesem System einnehmen. Sie sind kein Kostenfaktor, wie manch Konzernchef behauptet. Vielmehr tragen sie dazu bei, dass ihr Konzern eine Rendite von 20 Prozent erwirtschaftet. Dieses Bewusstsein unter den Beschäftigten brauchen wir für die kommenden Auseinandersetzungen. Denn die nächsten Gewinnerwartungen der Konzerne werden auf 22 oder 24 Prozent steigen. Die gewerkschaftlichen Verteilungskämpfe werden zukünftig härter. Und die gewinnen wir nur, wenn die Kolleginnen und Kollegen wissen, wofür sie kämpfen. Wir gewinnen nur, wenn sich die Kolleg_innen bewusst darüber sind, dass sie den entscheidenden Beitrag zum Unternehmensgewinn beitragen und den Aktionärserwartungen entsprechen. Die Kampagne will die Gewerkschafter_innen und Betriebsräte auf europäischer Ebene stärker vernetzen und setzt auf die Zusammenarbeit bei Tarifverhandlungen. Zuletzt werden wir Forderungen an die Gesetzgeber_innen der jeweiligen Regionen stellen – hier in Europa, aber auch in Südamerika und den USA. Das Ziel ist eine gewerkschaftliche Gegenmacht zum Finanzkapitalismus in der Lebensmittelwirtschaft aufzubauen.
Nach über zwei Jahren Verhandlungen steht die EU eventuell vor der Verabschiedung eines Handelsabkommens mit den Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay). Dieses soll höhere arbeitsrechtliche Standards in den südamerikanischen Partnerländern ermöglichen. Wäre das der Durchbruch für Gute Arbeit in den Lieferketten?
Das Abkommen könnte zu besseren Arbeitsbedingungen beitragen. Dafür müssten aber die Produkt- und Arbeitsstandards in dem Abkommen explizit festgelegt werden – das sind sie aber nicht. Ebenfalls bräuchte es Sanktionsmechanismen. Die Standards helfen nur dann, wenn ich Verstöße gegen das Arbeitsrecht auch sanktionieren kann. Doch auch das ist nicht vorgesehen. Darum wird das derzeitige Abkommen dazu führen, dass noch mehr Landwirte in Europa ihre Arbeit aufgeben müssen, weil sie der günstigeren Konkurrenz nicht standhalten können.
Die ganzen politischen Maßnahmen, die einer marktradikalen Logik folgen, schützen weder die Bevölkerung in Europa noch verbessern sie die Bedingungen in Südamerika. Dazu sind wir in Europa nicht einmal selbst in der Lage. Bis zur Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 haben die Beschäftigten in der Fleischindustrie für drei bis sechs Euro pro Stunde gearbeitet.
Peter Schmidt ist Referatsleiter für Internationales bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Foto: Gewerkschaft NGG
Das Interview führte Mario Schenk