Die Globale Wohnungskrise erfordert ein grundsätzliches Umdenken

Ausverkauf, Investitionslücke, Spekulationsware. 82 Millionen Europäer_innen können sich wohnen nicht leisten. Ursachen und Gegenmaßnahmen erläutert Barbara Steenbeergen vom geschäftsführenden Vorstand des Internationalen Mieterbunds (International Union of Tenants) im Interview.
Weltweit wird Wohnen zu einem dringenden Problem für Beschäftigte. Im globalen Norden sorgen steigende Mieten für real kleinere Einkommen oder lange Arbeitswege, im Süden leben viele Arbeitnehmer_innen unter unsäglichen Bedingungen in Slums. Inwiefern sind die Arbeitgeber für die Unterbringung ihrer Belegschaft mitverantwortlich?
Bezahlbares Wohnen ist ein Problem von breiten Schichten der Bevölkerung. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 hat zu einem massiven Rückgang der Investitionen in leistbares und soziales Wohnen geführt – im Ausmaß der Hälfte der Investitionen vor der Krise.
Allein in Europa sind Investitionen in die soziale Infrastruktur seit 2009 um 20 Prozent zurückgegangen, die Investitionslücke für bezahlbaren Wohnraum liegt bei rund 57 Milliarden Euro pro Jahr.[1]
Die EU hat über 220 Millionen Haushalte, und eine alarmierende Anzahl von 82 Millionen Europäer_innen kann sich das Wohnen nicht mehr leisten.
Bis in die 1970er Jahre war das Konzept der Werkswohnungen ein Teil der unternehmerischen Sozialverantwortung. 450.000 Werkswohnungen gab es in Deutschland – vor dem großen Ausverkauf der deutschen Wohnungsbestände an internationale Finanzinvestoren. 2004 zum Beispiel veräußerte die Bundesregierung etwa 80.000 Wohnungen und zusätzlich 65.000 Eisenbahnerwohnungen.
Dies war einer der Kardinalfehler der deutschen Wohnungspolitik. Heute fehlen 1 Million bezahlbarer Wohnungen, vor allem in wirtschaftlichen Ballungszentren und Universitätsstädten.
Was können und sollten die Arbeitgeber tun, um die Lage ihrer Beschäftigten zu verbessern?
Bezahlbares Wohnen ist ein harter Standortfaktor – weltweit. In europäischen Großstädten mit extremen Preisauswüchsen, wie z.B. London, Paris, Mailand oder Zürich, haben Arbeitgeber zunehmend Probleme, geeignetes Personal zu finden. Nicht jeder ist bereit, 70% seines Einkommens für Wohnen auszugeben oder pro Tag 3 Stunden An- und Abfahrtzeiten in Kauf zu nehmen. International gibt es daher in jüngster Zeit mehr Bestrebungen der Arbeitgeber, Mitarbeiterwohnen als betriebliche Sozialleistung anzubieten, Belegungsrechte zu erwerben oder selbst zu bauen – u.a. im Silicon-Valley. In Japan gehört dieses Modell zur wirtschaftlichen Tradition.
Kennen Sie einen guten Ansatz eines Arbeitgebers?
Es gibt mehrere Ansätze und Akteure in Deutschland. Für den öffentlichen Sektor sind z.B. aktuelle Projekte für Mitarbeiterwohnungen der Stadtwerke Köln und München zu nennen, in Berlin baut eine landeseigene Wohnungsgesellschaft Apartments für Polizeianwärter im mittleren Dienst.
Viele Krankenhausgesellschaften und Pflegeeinrichtungen bieten Mitarbeiterwohnen für ihr Personal an – bezahlbar und in unmittelbarer Nähe des Dienstortes, gleiches gilt für die Tourismusbranche.
Auch Industriekonzerne entdecken die Zeichen der Zeit neu, und sie handeln damit in einer alten Tradition: Siemens, BASF und Krupp – sie waren die Vorläufer der Werkswohnungen.
Kommunen, Länder und auch der Bund haben den Trend teilweise bereits erkannt und sollten auch künftig in die Beratung und Information der Unternehmen investieren. Sie könnten sogar selbst mit gutem Beispiel vorangehen und ihrerseits Wohnungen für ihre Angestellten anbieten
In Deutschland bleibt zu hoffen, dass eine neue gesetzliche Regelung, die seit dem 1. Januar 2020 gilt, den Markt ankurbelt: Vermietet der Arbeitgeber um ein Drittel unter der ortsüblichen Miete, muss dies von Arbeitnehmenden nicht mehr als geldwerter Vorteil versteuert werden – so wird es letztlich günstiger für Mieter_innen, und darauf kommt es an.
In Deutschland wird gerade das Modell der Werkswohnungen wiederentdeckt. Ist das eine Lösung aus Ihrer Sicht?
Eine Renaissance ist angesichts der desolaten Wohnungsmarktlage in Deutschland insbesondere für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen überfällig. Der Begriff des Mitarbeiterwohnens ist vielfältig. Er umfasst sowohl das Angebot klassischer Mietwohnungen als auch das Angebot von Werksmietwohnungen, Dienstwohnungen oder von Wohnheimplätzen. Wichtig ist, dass Mitarbeiterwohnen das Angebot an Wohnungen vor Ort erweitert, bezahlbar und bedarfsgerecht ist und Mieterschutz großgeschrieben wird. Dies gilt für Unternehmen, die mit örtlichen Wohnungsbaugesellschaften oder Genossenschaften zusammenarbeiten, aber auch bei den von den Unternehmen selbst errichteten und verwalteten Wohnungen. Im Idealfall werden auch die Arbeitswege verkürzt, was der Lebensqualität der BewohnerInnen zu Gute kommt und gleichzeitig den Pendelverkehr einschränkt. Unternehmen sollten sich diese Möglichkeit, konkret etwas für ihre Angestellten, den Klimaschutz und den sozialen Frieden zu tun, vor Augen halten, wenn sie unternehmerische Verantwortung ernst nehmen.
Braucht es hier nicht Mindeststandards? Man denke nur an die Fabrikarbeiterinnen, die in Bangladesch auf dem Fußboden neben ihrer Nähmaschine schlafen müssen.
Mindeststandards für Wohnraum sind essentiell. Die ILO hat hierzu bereits im Jahre 1961 sehr konkrete Empfehlungen veröffentlicht. Die International Union of Tenants ihrerseits hat dies im Tenants‘ Charter festgeschrieben.
Wir arbeiten international eng mit UN HABITAT in diesen Fragen zusammen, ebenso mit UNHCR, da es um grundlegende Menschenrechtsfragen geht.
In Europa setzen sich die Gewerkschaften für bezahlbares Wohnen ein. Sie fordern eine sozial gerechte Mietenpolitik oder setzen sich für Genossenschaftswohnungen ein. Ist das der richtige Weg aus Ihrer Sicht?
Die Gewerkschaften sind traditionelle Bündnispartner der Mieterbewegung. Wohnungspolitik muss sich wieder mehr um die Menschen drehen.
Bezahlbare Wohnungen, ein gerechtes Mietrecht und eine soziale Stadtentwicklung sind für unsere Gesellschaft von größter Bedeutung.
Zuallererst: Das Recht auf Wohnen ist ein fundamentales Menschenrecht, es sollte in den Verfassungen der Staaten verankert werden. Zweitens: Wir brauchen institutionell verankerte Mietermitbestimmung. Deutschland ist hier ein Entwicklungsland. In den meisten europäischen Ländern sind Mietervertreter_innen Mitglieder der Aufsichtsräte der Wohnungsbaugesellschaften. In Dänemark stellen sie sogar den Vorstand. Hier würde ich mir mehr Unterstützung der Gewerkschaften wünschen.
Ein soziales Mietrecht, Kündigungsschutz und Schutz vor ungebremsten Mietpreissteigerungen sind vital für soziale Gerechtigkeit. Die Mietpreisbremsen, wie sie jetzt in Deutschland eingesetzt werden, stehen auch international im Fokus der Aufmerksamkeit. IUT tritt hier als Wissensvermittler und Interessenvertreter auf. Eine konkrete Anleitung für eine faire und progressive Wohnungspolitik haben wir z.B. im Aktionsplan der EU- Partnerschaft für bezahlbares Wohnen aufgezeigt, in dem ebenfalls die Stärkung des gemeinnützigen Wohnungssektors und der Genossenschaften befürwortet wird.
Wie können Immobilienspekulanten in ihre Grenzen gewiesen werden?
Es geht darum, den Ausverkauf unserer Städte zu stoppen. Hier muss jedoch ein grundsätzliches Umdenken erfolgen. Seit 1990 geht es nur darum, Marktpotential zu entfesseln und den Finanzmärkten möglichst wenig Grenzen aufzuerlegen. Dies hat zu der heutigen globalen Wohnungskrise geführt. Wohnungen sind keine Waren, sie sind ein Sozialgut. Beste Mittel zur Eindämmung der Spekulation sind gesetzliche Mietobergrenzen, unbefristete Mietverträge, eine Bauland- und Vergabepolitik, die nicht-gewinnorientierte Anbieter bevorzugt, und eine Stadtplanung, die bezahlbares Wohnen in guten und sicheren Nachbarschaften in den Vordergrund stellt. Wir brauchen weiterhin ein europäisches Transparenzregister für Immobilientransaktionen, um Steuervermeidung, Steuerflucht und Geldwäsche endlich wirksam einzudämmen.
In den USA diskutieren Gewerkschaften, das Thema Wohnen über Tarifverträge zu regeln. Wäre dies auch ein Ansatz für Gewerkschaften in Europa oder im globalen Süden?
Kollektive Mietpreisverhandlungen gibt es auch in Europa, in Schweden. Dies ist ein guter, gangbarer Weg. Wichtig ist ebenso die flächendeckende Einführung eines sozialen Mietrechtes und von Mietspiegeln. Die Stärkung der Selbstorganisation der Mieterinnen und Mieter ist Basis des Fortschritts.
Was könnten Gewerkschaften noch tun, um gutes Wohnen für alle zu realisieren?
Die Mieten sind von Einkommen abgekoppelt. Während die Einkommen nur moderat stiegen, gingen die Mietpreise durch die Decke. Die Debatte um die Entkoppelung sollte national, europäisch und international geführt werden, auch von den Gewerkschaften. Die Kosten des Wohnens stellen den Hauptanteil der Haushaltskosten dar, mittlerweile sind 40-50 % der Standard für Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen. Wohnen ist zunehmend ein Armutsrisiko in den Städten geworden. Gewerkschaften und Mieterverbände haben hier eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, entgegenzusteuern.
Das Interview führte Uta von Schrenk.
04/2020
[1]https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/economy-finance/dp074_en.pdf