Gerechter Lohn – Existenzlohn
Je nach Berechnung gelten zwischen 700 Millionen und 2,4 Milliarden Menschen weltweit als extrem arm. Und das hängt nicht immer davon ab, ob diese Menschen Arbeit haben. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation lebt im globalen Süden auch jede und jeder dritte Arbeitende mit formaler Anstellung in Armut. Dabei gehört eine „angemessene und befriedigende Entlohnung“ zu den Menschenrechten
Rechtliche Grundlagen für einen gerechten Lohn
In Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht: „Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist.“
Auch die Vereinten Nationen bekräftigen dieses Recht mehrfach:
Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dem sogenannten Sozialpakt, erkennen die Mitgliedsstaaten das Recht auf ein Arbeitsentgelt an, das unter anderem „angemessen“ ist und „einen angemessenen Lebensunterhalt für (die Arbeitnehmenden) und ihre Familien“ sichert (https://www.sozialpakt.info/).
Die Präambel der Verfassung der UN-Sonderorganisation Internationale Arbeitsorganisation verankert die Forderung nach einem „zur Bestreitung des Lebensunterhaltes angemessenen Lohn“(https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---europe/---ro-geneva/---ilo-berlin/documents/genericdocument/wcms_193725.pdf). Die ILO- Konvention 131 und die dazugehörige Empfehlung regeln „die Festsetzung von Mindestlöhnen unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungsländer“ (https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---ed_norm/---normes/documents/normativeinstrument/wcms_c131_de.htm).
Auch die bis 2030 angestrebten Nachhaltigen UN-Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDG) verlangen implizit höhere Löhne für Menschen, die am Existenzminimum leben – wie sonst wären die Ziele Reduzierung der Armut, Kampf gegen den Hunger, besserer Zugang zu Medikamenten und Bildung, Arbeit in Würde, wirtschaftlicher Aufschwung für arme Weltregionen und Verringerung der globalen Ungleichheiten zu erfüllen?
Mindestlohn oder Existenzlohn?
In vielen Ländern der Welt gibt es staatliche Mindestlöhne, die allen abhängig Beschäftigten als festgelegte und gesetzlich garantierte Untergrenze zustehen. Dort ist der Mindestlohn also der kleinste zulässige Betrag, der für eine Arbeitsleistung gezahlt werden darf. Allerdings liegt dieser oft unter der Nationalen Armutsgrenze und orientiert sich nicht an den tatsächlichen Grundbedürfnissen.
Das Konzept des Existenzlohns (Living Wage) geht deshalb darüber hinaus. Er soll eine menschenwürdige Existenz auch für die Familie des Arbeitenden gewährleisten. Eine gängige Definition liefert seit 2009 die Asia Floor Wage Campaign, ein asiatisches Bündnis von Gewerkschaften, NGOs und Forschenden (siehe unten). Sie geht davon aus, dass mit dem Arbeitsentgelt für eine Standardarbeitswoche mit höchstens 48 Arbeitsstunden die Grundbedürfnisse einer Familie aus zwei Erwachsenen und zwei Kindern gedeckt werden müssen und darüber hinaus noch ein Betrag zur freien Verfügung – etwa zur Absicherung – übrigbleiben muss. (siehe bspw. https://lohnzumleben.de/living-wage/wie-wird-der-asia-floor-wage-berechnet/). Weil die Befürworter_innen eines Existenzlohns davon ausgehen, dass prinzipiell die Unternehmen in der Verantwortung stehen, ihren Beschäftigten ein solches Auskommen zu sichern, werden Existenzlöhne nicht staatlich festgelegt, sondern ausgehandelt.
Wege zum Existenzlohn
Für die internationale Gewerkschaftsbewegung und die Zivilgesellschaft ist klar, dass der Weg zu Existenzlöhnen über den sozialen Dialog geht: Der beste Lohn ist einer, der das Ergebnis von Verhandlungen ist. Damit dient er auch der Stärkung von Gewerkschaften und Tarifverträgen – was wiederum der Verbesserung der arbeits- und menschenrechtlichen Lage der Beschäftigten dient.
Allerdings ist die Durchsetzung von Existenzlöhnen nicht leicht. Der größte Bedarf besteht oft gerade in Ländern, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad relativ gering ist und es den Arbeitenden deshalb an Verhandlungsmacht gegenüber den Unternehmen fehlt. Diese wiederum fürchten um ihre Wettbewerbsfähigkeit. In der Regel spielen deshalb auch Menschenrechts- oder andere zivilgesellschaftliche Organisationen eine große Rolle.
Die ACT-Initiative
Seit 2016 ist die Stiftung ACT (Action, Collaboration, Transformation) am Start. Das ist ein Bündnis von 17 Textilherstellern und -händlern, die sich dem globalen Gewerkschaftsverbund IndustriALL gegenüber verpflichtet hat, auf branchenweite Tarifverträge mit existenzsichernden Löhnen auch in den Lieferländern hinzuarbeiten (https://actonlivingwages.com/).
Die Stiftung hat sich vor allem zwei Aufgaben gestellt. Zum einen will sie Lernprozesse in den Unternehmen auszulösen, in deren Verlauf diese identifizieren, was sich ändern muss, damit die Lieferanten Existenzlöhne zahlen können. Das können Preise, Lieferfristen, transparentere Kalkulationen, aber auch die Kurzfristigkeit von Designänderungen sein. Zum anderen arbeitet ACT darauf hin, in den Herstellerländern allgemeinverbindliche Tarifverträge zu etablieren.
Die Asia Floor Wage Campaign
Mit der Asia Floor Wage Campaign (AFW) gibt es seit 2009 eine breite, asiatisch angeführte Allianz von rund 70 Gewerkschaften, NGOs und Forschenden, die gemeinsam ein Berechnungsmodell für einen Existenzlohn erarbeitet und sich auf eine Lohnforderung geeinigt haben (https://asia.floorwage.org/). Die AFW ist als regionale Allianz aufgebaut und setzt sich zum Ziel, das Lohnniveau in der Bekleidungsindustrie für ganz Asien anzuheben und das Modell auch anderen Produktionsregionen (Lateinamerika, Afrika, Osteuropa) zugänglich zu machen. Sie will verhindern, dass Markenfirmen nach einer Lohnanpassung ihre Produktion in günstigere Nachbarländer verlagern und damit den Preis- und Wettbewerbsdruck noch anheizen. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen aus Asien hat die Clean Clothes Campaign den Aufbau der Asia Floor Wage Alliance unterstützt.
Die AFW engagiert sich lokal, bildet Arbeiter_innen weiter und unterstützt die gewerkschaftliche Organisierung vor Ort.
Die Malawi Tea 2020
In der Initiative Malawi Tea 2020 haben sich 2016 die malawische Teevereinigung, die Gewerkschaft PAWU (Plantation and Allied Workers Union) sowie Entwicklungsorganisationen und Fairtrade-Initiativen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist es, einen wirtschaftlichen Teehandel zu gewährleisten, der zugleich Nachhaltigkeitskriterien erfüllt und Existenzlöhne zahlt (https://www.malawitea2020.com/). Die Regierung unterstützt das Projekt. Ein erster Erfolg ist ein Tarifvertrag mit einer Untergrenze von 1,64 US-Dollar – was etwa zwei Drittel mehr ist als der staatliche Mindestlohn.