Gesundheitssektor : »In der Branche grassiert der Burnout«
16.06.2021 I Gewerkschafterin Rosa Pavanelli fordert Investitionen im Gesundheitssektor, um die Folgen von Covid-19 zu überwinden.
Nord | Süd news: Sie wurden von den Balkonen aus beklatscht, Politiker sprachen vom unterschätzten Wert ihrer Arbeit. Frau Pavanelli, hat sich über ein Jahr nach dem Beginn von Covid-19 etwas für die Beschäftigten im Gesundheitssystem geändert?
Rosa Pavanelli: Die Pandemie hat den katastrophalen Zustand der Gesundheitssysteme weltweit offengelegt. Seit Jahren wird hier drastisch bei Personal und Ressourcen gespart. Deshalb war man in allen Teilen der Erde völlig unvorbereitet auf Corona. Überstunden, Urlaubsverbote, harte Schichten waren die Folge.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht inzwischen von bis zu 180.000 Toten aus.
Das halte ich für realistisch. Am Anfang gab es selbst in den entwickelten Ländern nicht genug Schutzkleidung. In einigen Ländern des Südens ist die Situation sogar heute noch so. In Afrika, in Indien, in Brasilien und anderswo spielt sich weiter eine Tragödie in den Krankenhäusern ab. Auch in vielen Industriestaaten ist es katastrophal. Ich komme aus Italien. Meine Schwester ist Krankenschwester. Sie hat seit November erst einen Tag frei machen können.
In Deutschland gab es immerhin einen Bonus für Pflegekräfte. Reicht das als Anerkennung?
Nein. Auch in anderen Ländern Europas oder in den USA haben die Mitarbeitenden Ausgleichszahlungen erhalten. Aber niemand hat die entschädigt, die infiziert wurden oder sogar starben. In vielen Ländern geht mit der Infektion ja nicht nur eine Stigmatisierung der Erkrankten einher, deren Familien erhalten im Todesfall auch keine Entschädigung. Außerdem ist die Personaldecke im öffentlichen Gesundheitswesen viel zu dünn. Je länger die Arbeitszeit, desto höher ist die Gefahr, sich zu infizieren. Das heißt: Wir brauchen mehr Geld im Gesundheitssystem.
Wofür?
Die Pandemie enthüllte auch die große Lüge, dass globale Lieferketten uns adäquat versorgen können. Als alle plötzlich gleichzeitig Masken oder Schutzkleidung benötigten, entstand ein gefährlicher Nationalismus. Die Lieferketten müssen also drastisch verkürzt werden: Jeder Staat muss sich mit solchen Materialien selbst versorgen können. Außerdem forderte die UN-Vollversammlung bereits 2016, dass wir weltweit rund 18 Millionen zusätzliche Stellen im Gesundheitssektor brauchen, allein um Kürzungen auszugleichen, vor allem in den ärmeren Ländern.
Was ist seitdem passiert?
Nichts. Selbst in den Philippinen und anderen Ländern, die Gesundheitsfachkräfte »exportieren«, war die Situation während der Pandemie dramatisch. Inzwischen grassiert in der Branche auch der Burnout. Das heißt, dass viele sich bald eine andere Beschäftigung suchen werden. Kein Wunder: In Europa und anderen Regionen der Welt ist das Personal mittlerweile zum großen Teil geimpft, aber Fehlanzeige im Globalen Süden. Das alles beschleunigt einen Teufelskreis. Deshalb benötigen wir unbedingt eine Freigabe von Impfstoffpatenten.
Länder wie Deutschland sind dagegen.
Die deutsche Pharmaindustrie ist dagegen. Das ist unverantwortlich, selbst die USA haben sich inzwischen dafür ausgesprochen.
Warum sollen die Impf-Konzerne ihre Patente freigeben?
Das US-Pharmaunternehmen Pfizer hat 9 Milliarden US-Dollar staatliche Unterstützung bekommen, 97 Prozent der Forschung für den Impfstoff von AstraZeneca/Oxford wurde öffentlich finanziert. Pfizer, AstraZeneca und Johnson & Johnson verteilten aber im vergangenen Jahr insgesamt 26 Milliarden US-Dollar an Dividenden und durch Aktienrückkäufe an ihre Aktionäre. Damit hätte man 1,3 Milliarden Menschen impfen können – oder ganz Afrika! Einige nennen das Impf-Apartheid. Es ist eigentlich dieselbe Situation wie vor einigen Jahren, als Big Pharma die Produktion von Generika gegen HIV verhinderte. Als der Patentschutz für diese Medikamente auslief, hatten wir 30 Millionen Leben verloren.
Viele Regierungen und auch die Weltbank haben versprochen, mehr in den Sektor zu investieren.
Vor allem private Firmen haben von den Geldern profitiert. Laut uns vorliegenden Daten aus Seniorenheimen ist ganz klar: Wo private Firmen zuständig sind, gibt es mehr Tote bei Personal und Patienten.
Was tut PSI konkret, um die Situation zu verbessern?
Wir arbeiten gemeinsam mit WHO, ILO oder OECD daran, künftig besser auf neue Pandemien vorbereitet zu sein. Zum Beispiel muss Covid-19 als Berufskrankheit für alle im Gesundheitssektor anerkannt werden. Außerdem setzen wir uns bei Internationalem Währungsfonds und Weltbank dafür ein, dass die Ausgaben im öffentlichen Gesundheitssektor nicht mehr gedeckelt sein sollen.
Mit welchem Erfolg?
In Europa sind die Maastricht-Regeln flexibler geworden, weil alle den Ausnahmezustand erkannt haben. Ähnliches muss auch im Globalen Süden passieren. Der IWF ist in dieser Hinsicht sensibler geworden, die Weltbank nicht. Eine echte Wende sehe ich nur in der US-Politik: Fast schon unglaublich, dass sich Präsident Biden für eine globale Mindeststeuer für Unternehmen in Höhe von 15 Prozent stark macht.
Rosa Pavanelli, ist seit 2012 Generalsekretärin von Publik Services International, der globalen Gewerkschaftsvereinigung für den öffentlichen Sektor. PSI hat 700 Mitgliedsgewerkschaften in 154 Ländern mit 30 Millionen Mitgliedern. Foto:PSI
Interviewer: Kai Schönberg ist Journalist in Berlin.
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