
Gewerkschaftsrechte unter Beschuss - Die Situation weltweit
Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) spricht von einer regelrechten Demokratiekrise: Weltweit schrumpfen demokratische Handlungsspielräume von Arbeitnehmenden, der Einfluss von Wirtschaftsunternehmen nimmt zu. Das passt in das gesamtpolitische Umfeld, in dem fast überall Nationalismus und die extreme Rechte erstarken und die wirtschaftliche Ungleichheit wächst. Deshalb hat der IGB-Vorstand im Oktober beschlossen, seine Arbeit auf den Frieden, die Verteidigung der Demokratie und einen neuen Gesellschaftsvertrag zu fokussieren.
Die Autorin Loredana Carta arbeitet als Juristin in der Abteilung Menschen- und Gewerkschaftsrechte des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB-ITUC) und ist verantwortlich für die Erstellung des jährlichen IGB Global Rights Index. Hier berichtet sie über den Zustand der Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern weltweit. Der Artikel wurde im Dezember 2019 in unserer Broschüre Gewerkschaftsrechte weltweit (2019) veröffentlicht.
Tuti Tursilawati arbeitete als Arbeitsmigrantin in einem saudi-arabischen Haushalt, als sie 2011 angeblich ihren Arbeitgeber tötete. Die Strafverfolgung fand heimlich statt, ebenso der Scharia-Prozess, in dem die zu dem Zeitpunkt 27-jährige Indonesierin ausgesagt haben soll, sie habe in Notwehr gehandelt, als der Mann sie vergewaltigte. Die indonesischen Behörden erfuhren erst von dem Fall, nachdem Tuti Tursilawati im Oktober 2018 hingerichtet worden war.
Konkrete Fälle wie dieser zeigen drastisch, wie absolut Arbeitnehmenden in vielen Ländern die Grundrechte verweigert werden. Am schlechtesten ist die Situation in der sogenannten MENA-Region, also dem Mittleren Osten und Nordafrika. In einigen der Länder stammen fast 90 Prozent der Beschäftigten aus dem Ausland. Das Kafala-System, das die Migration regulieren und kontrollieren soll, schließt die Wanderarbeiter_innen von jeglichem Arbeitsschutz und allen Arbeitsrechten aus. Sie dürfen sich nicht organisieren, den Arbeitsplatz verlassen und auch nicht frei reisen.
Regierungspraktiken sind besorgniserregend
Weltweit sind Arbeitsmigrant_innen am häufigsten von Ausbeutung, Zwangsarbeit und täglichem physischen und psychischem Missbrauch betroffen. In vielen Ländern werden politische Rechte aber auch generell nicht garantiert. Vor allem in autokratischen Regimen wie Weißrussland, Ägypten und den Philippinen werden Arbeitnehmerrechte wie Versammlungsfreiheit und politische Freiheiten wie die der Meinung nicht geschützt – im Gegenteil: Das brutale Niederschlagen der Arbeiter- und Volksproteste in Simbabwe und Hongkong offenbart die Fragilität von Frieden und Demokratie.
Weitere Trends sind der systematischen Abbau und die willkürliche Auflösung unabhängiger Gewerkschaftsbewegungen in repressiven Staaten wie Ägypten und Algerien. Viele Gewerkschaften haben schon Schwierigkeiten bei der behördlichen Registrierung, die wesentlich ist, um das Recht auf Vereinigungsfreiheit einfordern zu können. Deshalb ist die offizielle Anerkennung immer der erste Schritt für Arbeitnehmerorganisationen, wenn sie effizient arbeiten und ihre Mitglieder angemessen vertreten wollen. 2019 behinderten die Behörden Gewerkschaften in 86 Ländern dabei, sich anzumelden, sie meldeten längst registrierte Gewerkschaften offensiv ab oder lösten sie willkürlich auf, beispielsweise in Argentinien, Weißrussland, Burkina Faso, Guatemala und Honduras.

Viele Regierungen erhöhen auch den Druck auf Arbeitnehmende, die ihre Rechte geltend machen und ihre Gewerkschaften unterstützen wollen. Sie entsenden Polizei und Militär, die gewaltsam gegen Proteste und Streiks vorgehen, und nehmen gezielt bekannte Gewerkschaftsführer_innen ins Visier. 2019 wurden in 64 vom IGB befragten Ländern Arbeitnehmende festgenommen und inhaftiert. Drei Viertel der Länder der Region Asien-Pazifik verhafteten Arbeitnehmende während der Proteste, in Europa kam das in jedem vierten Land vor.
Und es bleibt nicht bei den willkürlichen Verhaftungen. Es gibt eine besorgniserregende Entwicklung zu mehr körperlicher Gewalt gegen Gewerkschaftsführer_innen, insbesondere durch repressive Regime. Das schürt ein Klima der Einschüchterung und Angst. Die Ansage: Wer sich für Gewerkschaften engagiert, setzt sein Leben aufs Spiel. 2018 wurden Gewerkschafter_innen in mindestens zehn Ländern ermordet: in Bangladesch, Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Honduras, Italien, Pakistan, den Philippinen, der Türkei und Simbabwe. Allein in Kolumbien wurden 34 Gewerkschafter umgebracht sowie zehn Fälle von Mordversuchen und 172 Fälle von Morddrohungen dokumentiert. Die meisten dieser Verbrechen sind nach wie vor ungeklärt. Die Regierung versäumt es, die notwendigen Mittel für die zeitnahe Untersuchung und Verfolgung dieser Fälle bereitzustellen. Mit der Unterdrückung der Arbeiterbewegung und der unabhängigen Gewerkschaften werden menschenwürdige Arbeit und demokratische Rechte in fast allen Ländern geschwächt.

Unternehmen versagen Gesellschaftsvertrag
Das aktuelle Geschäftsmodell ist von wachsender Ungleichheit geprägt. Wesentlich ursächlich dafür ist das Scheitern des Gesellschaftsvertrags, infolgedessen mehr Arbeitnehmende denn je mit inakzeptablen Arbeitsbedingungen und Ausbeutung, Lohnstagnation und eingeschränkter Macht über eigene Lebensentscheidungen konfrontiert sind. Zugleich ist eine wachsende Zahl von Beschäftigten vom arbeitsrechtlichen Schutz ausgeschlossen: 2,5 Milliarden Menschen in der informellen Wirtschaft, Millionen von Arbeitsmigrant_innen, noch mehr Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen zum Beispiel in der Plattformökonomie. Insgesamt haben bestimmte Kategorien von Arbeitnehmenden in 107 vom IGB befragten Ländern beispielsweise nicht das Recht, sich zu organisieren.
Unternehmen nutzen die Veränderungen in der Arbeitswelt proaktiv, um Arbeitsgesetze und -vorschriften zu umgehen und so höhere Profite zu machen. Besonders deutlich ist das in Europa. Sogenannte nicht standardisierte Beschäftigungsformen stören die Organisationsmöglichkeiten der Gewerkschaften, da sie Beschäftigte meist physisch oder psychisch von Festangestellten isolieren. Dazu gehören Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, Abrufarbeit und Verträge mit Null- oder variabler Arbeitszeit, Leiharbeit; außerdem versteckte und abhängige Selbstständigkeit, bei der ein Großteil der Arbeitskräfte in Plattformarbeit, in Einzelaufträgen oder digitaler Arbeit zu finden ist.
Zudem verfolgen Unternehmen aktiv gewerkschaftsfeindliche Strategien, damit sich die Arbeitnehmenden nicht organisieren können. Einen besonders brisanten Fall hat der IGB gemeinsam mit koreanischen Gewerkschaften 2017 bei Samsung aufgedeckt. Der Elektronikriese hatte ein ganzes System von Schmiergeldzahlungen auf der einen und Drohungen, Mobbing, willkürliche Kündigungen und sogar Kidnapping auf der anderen Seite aufgebaut, um die Arbeitnehmenden systematisch einzuschüchtern und völlig zu kontrollieren.
Auch bei der Gesetzgebung wird der Einfluss von Unternehmen und ausländischen Investoren immer deutlicher. In vielen Ländern, darunter Moldawien und Rumänien, haben Unternehmenslobbys die Regierungen stark in Richtung Reformen zum Nachteil des trilateralen sozialen Dialogs und der Arbeitnehmerrechte gedrängt. In anderen Ländern verabschiedeten die Regierungen Gesetze, die Rechtsstaatlichkeit gefährden und die Möglichkeiten der Arbeitnehmenden und ihrer Gewerkschaften untergraben, ihre Grundrechte am Arbeitsplatz zu sichern und durchzusetzen. Konkret haben in den letzten Jahren die Regierungen in drei der bevölkerungsreichsten Länder der Welt – China, Indonesien und Brasilien – Gesetze verabschiedet, die den Arbeitnehmenden die Vereinigungsfreiheit verweigern und ihre Meinungsfreiheit einschränken. Zugleich erlaubten sie, das Militär zur Unterbindung von Arbeitskämpfen einzusetzen.
Kampf um Demokratie
Woher das alles kommt, liegt auf der Hand: Die Gewerkschaften spielen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten und der Umverteilung von Macht und Wohlstand. Sie stehen an vorderster Front bei allen Kämpfen zur Eindämmung von Profitgier und Konzernmacht und Regierungen, die darin verstrickt sind. Das macht sie zu Schlüsselzielen für politische Vergeltungsmaßnahmen. Und der enge Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerrechten und Demokratie erklärt, warum Regierungen, die sich vor freien und fairen demokratischen Prozessen fürchten, besonders daran interessiert sind, die Stimme der Arbeitnehmenden zu unterdrücken.
Dass Gewerkschaften auch eine Reihe von positiven Veränderungen maßgeblich initiiert und vorangetrieben haben belegt in Island ein Gesetz zur Beseitigung des Lohngefälles zwischen den Geschlechtern, in Kanada die Verabschiedung von bezahltem Urlaub in Fällen häuslicher Gewalt und in Neuseeland die Aufhebung repressiver Arbeitsgesetze. In Irland verabschiedete das Parlament im März 2019 das Beschäftigungsgesetz, dem zufolge Nullstundenverträge außer in Situationen echter Gelegenheitsarbeit verboten sind. Dieser Rechtsakt ist ein bedeutender Schritt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmende mit unsicheren Verträgen oder variablen Arbeitszeiten. Er ist das Ergebnis eines langen Kampfes von Arbeitnehmenden und Gewerkschaftsaktivist_innen von Dunnes Stores, die sich in den letzten vier Jahren für die Abschaffung der Nullstundenverträge eingesetzt haben. Dank dieser Gesetzgebung können sich nun Tausende von Beschäftigten nach 12 Monaten bei ihren Arbeitgebenden um einen neuen Vertrag mit sicheren Arbeitszeiten bemühen.
Es ist höchste Zeit, die Regeln zu ändern, da Menschen das Vertrauen in Demokratie verlieren. Wir brauchen einen neuen Sozialvertrag zwischen Arbeitnehmenden, Regierungen und Unternehmen.