Japan: Arbeiten bis zum Umfallen
In Japan ist der Tod durch Überarbeitung so häufig, dass es dafür ein extra Wort gibt. Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschafter haben für 2019 eine Einigung getroffen, um ihm etwas entgegenzusetzen.
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„Ich werde sterben. Ich bin so müde.“ So lautete der letzte Tweet von Matsuri Takahashi. Dann sprang sie vom Dach ihres Wohnheims in den Tod. Die 24-Jährige war total überarbeitet. In den vier Wochen vor der Selbsttötung hatte sie 105 Überstunden geleistet. Das hatte sie depressiv gemacht. Tod durch Überarbeitung heißt auf Japanisch „Karoshi“. Dass es dafür ein eigenes Wort gibt, ist ein Indiz dafür, wie verbreitet Mehrarbeit in Japan ist. In jedem fünften Unternehmen leisten Mitarbeiter_innen laut dem staatlichen Karoshi-Weißbuch monatlich über 80 Überstunden.
Doch es gibt Anzeichen für eine Besserung. Vor fünf Jahren waren die langen Arbeitszeiten nur für 30 Prozent der Unternehmen ein Thema. Gemäß einer Umfrage des Beraters Deloitte Tomatsu sind sie es inzwischen für 73 Prozent. In den Büros des Fertighausherstellers Mitsui Home zum Beispiel erschallt um 18 Uhr die Rocky-Hymne „Gotta fly now“. Die Beschäftigten stehen auf und erklären laut, ob sie länger arbeiten werden. Dann erhalten sie Hilfe von Kolleg_innen, damit sie ihre Aufgaben schneller erledigen. Dieser Sinneswandel wurde dadurch ausgelöst, dass Japans Gesellschaft rasant altert und schrumpft. Deswegen herrscht starker Personalmangel. Die Unternehmen müssen ihr Arbeitsumfeld verbessern, sonst suchen sich ihre Mitarbeiter_innen einen anderen Job. Zugleich propagiert die Regierung eine „Arbeitsstilreform“. Mehr junge Mütter sollen erwerbstätig werden. Das geht nur, wenn abends nicht mehr so lange gearbeitet wird.
Im Frühjahr 2017 einigte sich ein „Runder Tisch“ aus Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften erstmals auf eine Begrenzung der Überstunden. Ab April 2019 liegt das Limit bei 720 Überstunden jährlich. Falls Unternehmen mehr fordern, müssen sie eine Geldstrafe zahlen. Premierminister Shinzo Abe nannte dies einen „Durchbruch“. Doch der Gewerkschaftsdachverband Rengo sah keinen Anlass zum Jubeln, weil bis zu drei Überstunden täglich möglich bleiben. Die Einigung sei „nur ein Schritt vorwärts“, meinte Rikio Kozu, Präsident des größten nationalen Gewerkschaftsverbandes Rengo. Immerhin sei das Arbeitsgesetz von 1947 erstmals reformiert worden.
Aus westlicher Sicht ist schwer zu verstehen, warum eine Gewerkschaft so viele Überstunden billigen konnte. Dazu muss man wissen, dass bei festangestellten Mitarbeiter_innen in Japan jede Minute über den Achtstundentag hinaus extra bezahlt wird. Viele Arbeitnehmer_innen planen diesen Zusatzverdienst in ihr Budget fest ein. Weniger Mehrarbeit bedeutet also weniger Lohn. Zumindest in großen Unternehmen sind diese Festangestellten oft gewerkschaftlich organisiert. Das Interesse seiner Mitglieder an Überstunden musste Rengo also berücksichtigen.
Zugleich unterstützen die Gewerkschaften die offizielle „Arbeitsstilreform“. Einer ihrer Kerngedanken besteht nämlich darin, einen kleinen Lohnanteil der regulären Festangestellten auf die „irregulär“ Beschäftigten zu übertragen. Dadurch soll die enorme Lohnlücke zwischen beiden Gruppen schrumpfen. Zeitarbeiter_innen machen immerhin 38 Prozent der Beschäftigten in Japan aus und verdienen im Schnitt mehr als ein Drittel weniger als die „Regulären“. Daher sollen die Unternehmen das Geld, das sie durch weniger Überstunden einsparen, an ihre Zeitarbeiter_innen und Teilzeitkräfte weitergeben. Nach einer Berechnung der Credit Suisse Japan könnten die Stundenlöhne der Zeitarbeiter_innen um 10 Prozent steigen, falls die Ausgaben für Überstunden um die Hälfte sänken. Die Festangestellten verlören im Schnitt 3,3 Prozent von ihrem Lohn. Das halten die Gewerkschaften für erträglich, zumal sie hoffen, unter den Irregulären neue Mitglieder zu gewinnen.
Jedoch musste der Gewerkschaftsriese Rengo zwei dicke Kröten schlucken. Erstens sind zu Zeiten intensiver Beschäftigung, etwa vor dem Jahresende, künftig bis zu 100 Überstunden im Monat zulässig. Zweitens gilt das Mehrarbeitslimit nicht ausdrücklich für Arbeitnehmer_innen mit speziellen professionellen Kenntnissen, zum Beispiel Software-Ingenieur_innen und Buchhalter_innen. Unternehmen müssen keine Entschädigung mehr zahlen, falls solche Mitarbeiter_innen durch Überarbeitung zu Tode kommen.
Rengo-Präsident Kozu gestand, diese Ausnahmeregelung fördere die Überarbeitung. Der Vizepräsident des nationalen Konkurrenzverbandes Zenroren (National Confederation of Trade Unions), Yuji Iwahashi, wurde noch deutlicher: „Das ist moderne Sklaverei.“ Immerhin gibt es in dem Gesetz eine kleine Bremse gegen Ausbeutung: Solche Beschäftigten können selbst entscheiden, ob sie ohne Überstundenlimit arbeiten wollen oder nicht.
Martin Fritz
Der Autor lebt und arbeitet als Korrespondent in Tokio.