![Textilarbeiterin am Arbeitsplatz](/sites/default/files/styles/header/public/media/img_ext/2020/780_05_1.jpg?h=80517a71&itok=OXxNFdbH)
Lieferketten: Textilindustrie - Angst, weggeschwemmt zu werden
Die Arbeiter_innen in den Produktionsländern der großen Modeketten sind von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die starke Abhängigkeit in den Lieferketten macht ihnen auch in der nächsten Welle Sorgen.
Die Bekleidungsindustrie leidet von Anbeginn der Corona-Pandemie besonders unter deren ökonomischen und sozialen Folgen. Entlang der gesamten globalen Lieferkette zeigen sich die Auswirkungen von Lockdowns, Betriebsschließungen und Kontaktbeschränkungen. So schätzt der Kreditversicherer Euler Hermes die Umsatzverluste der Textilhändler allein in Deutschland auf rund 12 Milliarden Euro; acht große Unternehmen mussten Insolvenz anmelden, und von allen Branchen in Deutschland sieht Euler Hermes die der Bekleidung am anfälligsten für weitere Pleiten.
Dabei leidet die Branche ohnehin seit Jahren unter einer Überproduktion und kämpft mit der Digitalisierung – Stichwort: Onlinehandel. Ihre Probleme reichen die meisten Modemarken der Industrieländer jedoch entlang der Lieferkette weiter. Laut einer Umfrage der Organisation Business & Human Rights Resource Centre unter 50 großen Modeunternehmen hat die Mehrheit auch im Corona-Jahr Gewinne verzeichnet. Von diesen 29 Unternehmen hatten demnach 9 nicht vor, für alle vor der Krise erteilten Aufträge zu zahlen, 10 wollten die Frage nicht beantworten.
Die Leidtragenden der Stornierungen sitzen am Anfang der Lieferkette. Kürzlich veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation ILO eine Studie mit dem Titel »Die Welle der Ansteckung in der Lieferkette: Wie Covid-19 sich auf Arbeiter_innen und Fabriken in Asien und der Pazifik-Region auswirkt«. Demnach sanken die Exporte aus den klassischen Fabrikationsländern Bangladesch, Kambodscha, China, Indien, Indonesien, Myanmar, Pakistan, Philippinen, Sri Lanka und Vietnam in die Industriestaaten in der ersten Jahreshälfte um etwa 70 Prozent. Für die meisten Textilarbeiter_innen bedeutete dies mehrere Wochen Arbeitslosigkeit, viele verdienten weniger oder bekamen ihren Lohn verspätet.
Am stärksten von zeitweiliger Freistellung oder gar von Entlassung betroffen waren Wanderarbeiter_innen. Die Organisation Clean Clothes Campaign berichtet etwa aus Malaysia, dass während der ersten Welle der Pandemie über 1.000 Wanderarbeiter_innen ohne Papiere verhaftet und in Gefängnissen eingesperrt wurden, die sich später als Hotspots des Corona-Virus herausstellten. Die malaysische Regierung sah die Verantwortung für die Arbeiter_innen in den jeweiligen Herkunftsländern. Laut einem gemeinsamen Bericht von Wissenschaftler_innen der Universität Warwick und des Forschungsnetzwerks J-PAL auf Grundlage einer Telefonumfrage unter 2.259 zwischenstaatlichen Wanderarbeiter_innen aus den indischen Regionen Bihar und Jharkhand kehrte fast die Hälfte der Befragten letztlich in ihre Heimat zurück. Etwa ein Drittel wurde arbeitslos, 37 Prozent mussten unbezahlten Urlaub nehmen. Das soziale Netz fing sie nur zum Teil auf: Etwa die Hälfte der Wanderarbeiter_innen erhielt staatliche Hilfe in Form von Geld oder Nahrung, doch 31 Prozent gingen leer aus.
All dies sind die Auswirkungen der ersten Covid-19-Welle in Europa und Amerika. Am Ende des Sommers meldeten Unternehmerverbände aus Südost-Asien eine vorsichtige Erholung: Unternehmerverbände aus Bangladesch verzeichneten steigende Bestellungen und erwarteten höhere Einnahmen. Wieder zunehmende Überweisungen von im Ausland beschäftigten Arbeiter_innen nach Bangladesch zeigten, dass es auch dort wirtschaftlich aufwärts ging. Die Asiatische Entwicklungsbank schätzte, dass die Wirtschaft in den Textilländern wieder auf Wachstumskurs kommen würde.
Darum weckt die zweite Welle der Pandemie in Europa große Befürchtungen in den Produktionsländern, dass sich die Entwicklung der ersten Jahreshälfte wiederholt. Während in Deutschland bislang noch moderate Einschränkungen gelten, sind in den meisten anderen Ländern Europas Boutiquen und Kaufhäuser geschlossen. Die Gefahr ist also groß, dass die Hersteller erneut auf Auftragsstornierungen und nicht bezahlten Rechnungen sitzen bleiben werden.
Und noch eine Entwicklung diesen Jahres sehen die Arbeiter_innen mit Sorge: Schon immer waren organisierte Proteste gegen ihre Arbeitsbedingungen den häufig autoritären Regierungen in den Produktionsländern ein Dorn im Auge. Mit der Pandemiebekämpfung haben sie nun »die Angriffe auf die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter verstärkt«, sagte Ben Hensler, General Counsel beim Worker Rights Consortium kürzlich dem britischen Guardian, »die Pandemie hat den Tätern gleichzeitig eine politische Deckung gegeben«. Hoffnung hingegen geben Konzepte wie dieses: Gemeinsam haben Unternehmen und Entwicklungsorganisationen die Kampagne #PayUp gestartet. Darin fordern sie die Modemarken der Industrieländer dazu auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen, bestellte Ware abzunehmen und offene Rechnungen zu bezahlen.
Autorin: Heike Holdinghausen ist Journalistin in Berlin. Sie schrieb u.a. »Dreimal anziehen, weg damit: Was ist der wirkliche Preis für T-Shirts, Jeans und Co?«, Westend Verlag 2015
Dezember 2020