Mehr Anspruch als Wirklichkeit: Freihandel in Afrika
29.09.2021 I Die Afrikanische Union will mit der Agenda 2063 eine kontinentale Freihandelszone schaffen. Was heißt das – auch für die EU?

Rein formal gesehen geht alles seinen Gang. 54 von 55 Staaten in Afrika – Eritrea ist die Ausnahme – haben mittlerweile die panafrikanische Freihandelszone AfCFTA (African Continental Free Trade Area) der Afrikanischen Union unterschrieben. Und 38 haben sie ratifiziert: Zuletzt kam im August Burundi dazu, im Juni war es Algerien. Bereits zu Jahresbeginn, beim Erreichen der Zweidrittelmarke, trat AfCFTA provisorisch in Kraft – der erste Schritt zu einem gemeinsamen afrikanischen Binnenmarkt, dem Kern der »Agenda 2063« der Afrikanischen Union zur Vereinigung des schnellst wachsenden Kontinents der Erde mit derzeit 1,2 Milliarden Menschen. »Wir bauen den gemeinsamen Markt«, twittert das AfCFTA-Sekretariat in Ghana bei jeder neuen Ratifizierung in freudiger Erwartung.
Wie so viele gesamtafrikanische Initiativen der Afrikanischen Union (AU) ist allerdings auch die AfCFTA derzeit noch mehr Schein als Sein. Dass sie seit Anfang 2021 offiziell in Kraft ist, bedeutet lediglich, dass Handel unter ihren Bestimmungen ab jetzt erlaubt ist. Aber damit das auch über die ersten bekannt gewordenen, eher symbolischen Vorzeigegeschäfte hinaus geschieht, müssen auf nationaler Ebene auch die entsprechenden Gesetze in Kraft sein, und zwar an beiden Enden einer Handelskette. Das dauert. Und auch Gesetzestexte bedeuten noch lange nicht, dass Handelsabläufe tatsächlich einfacher werden. »Es wird noch sehr lange dauern«, sagte AfCFTA-Generalsekretär Wamkele Mene zu Jahresbeginn. AfCFTA könne wenig ausrichten, »wenn die Straßen nicht da sind, wenn die Zollbehörden nicht richtig ausgestattet sind für den schnellen und effizienten Warentransit, wenn die Infrastruktur nicht da ist«.
Außerdem fallen Handelsbarrieren nicht auf einen Schlag. Laut Abkommen werden ab seinem Inkrafttreten 90 Prozent aller Zölle innerhalb der nächsten fünf Jahre – beziehungsweise zehn Jahre im Falle der am wenigsten entwickelten Länder – abgeschafft. Noch nicht abschließend geregelt sind nicht-tarifäre Handelsbarrieren wie Ursprungsregeln für Waren – sehr wichtig in Afrika, wo so gut wie alle Industriegüter von außerhalb des Kontinents kommen oder zumindest außerafrikanische Komponenten enthalten. Die Regelung von grenzüberschreitenden Dienstleistungen wie Telekommunikation, Zahlungsmittel, Tourismus und Verkehr steht aus. Die Harmonisierung von Regeln für Wettbewerb, geistiges Eigentum, Investorenschutz und E-Commerce gehört eigentlich auch zur AfCFTA-Agenda – man merkt, dass die Zielmarke 2063 gar nicht so falsch ist.
Die Bedeutung der AfCFTA liegt darin, dass mit ihr die AU eigenständig Handelspolitik für Afrika macht. Bisher ist das die Domäne afrikanischer Regionalorganisationen – allen voran der Gemeinsame Markt des Östlichen und Südlichen Afrika – sowie der einzelnen Länder und Regionalzusammenschlüsse, von denen die AU acht anerkennt. Der Handel mit der EU ist bislang grundsätzlich durch die Cotonou-Abkommen (vor 2000: Lomé-Abkommen) der Europäischen Union und ihrer Vorgänger mit den ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, der Karibik und dem Pazifik (AKP-Staaten) geregelt – eine Struktur, die auf den Abhängigkeitsverhältnissen der Kolonialzeit beruht. Die EU hält an den AKP-Staaten als Ansprechpartnergruppe fest und hat mit ihnen im April 2021 ein Nachfolgeabkommen für das Cotonou-Abkommen paraphiert.
Außerdem verhandelt die EU seit 2007 mit einzelnen Ländern und Regionalblöcken Afrikas Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA - Economic Partnership Agreement), die nicht nur Europas Märkte für afrikanische Handelsgüter öffnen, sondern auch umgekehrt Afrika für europäische Importe – und deswegen weiterhin auf erheblichen Widerstand stoßen.
Kein einziges der über viele Jahre verhandelten EPAs mit Afrikas Regionen ist endgültig in Kraft. Es gibt lediglich provisorische Anwendungen mit einzelnen Ländern, aber die flächendeckende Umsetzung über alle Wirtschaftszweige hinweg ist selbst dort, wo fertige Abkommen existieren, wegen der Ablehnung einzelner Länder wie Nigeria und Tansania bis heute blockiert.
In Nigeria war dabei der Widerstand der Gewerkschaften entscheidend. Ihre Haltung, dass eine vollständige Öffnung des riesigen nigerianischen Marktes die ohnehin seit Jahrzehnten von sukzessiven Regierungen sträflich vernachlässigten Industrie- und Agrarsektoren des Landes komplett ruinieren wird, sind bis heute Regierungspolitik. Nigeria verweigerte erst im April 2018 die Unterzeichnung des EPA zwischen der EU und Westafrika und hielt sich dann auch bei der Unterzeichnung des AfCFTA zurück – die erfolgte erst im Juli 2019, und die Ratifizierung zog sich bis Dezember 2020 hin.
Wie bei den meisten AU-Aktivitäten blieben auch beim Entwerfen des Freihandelsabkommens die Regierungen weitgehend unter sich; zivilgesellschaftliche Gruppen oder Gewerkschaften waren nicht in die Verhandlungen eingebunden. Ihr Einfluss beschränkte sich auf das Mahnen von außen. Meist artikulieren sie die in reicheren afrikanischen Ländern verbreitete Sorge, dass ärmere Nachbarn die Preise drücken und dass Freihandel dies begünstigt. So riefen im Jahr 2019 die Gewerkschaftsdachverbände von Ghana, Kenia, Nigeria und Südafrika gemeinsam dazu auf, AfCFTA dürfe nicht dazu führen, dass lokale Produzenten von Billigimporten verdrängt werden. Doch nur in ganz wenigen afrikanischen Ländern sind nennenswerte Zahlen von Arbeitnehmer_innen außerhalb des öffentlichen Dienstes überhaupt gewerkschaftlich organisiert.
Nigeria hat in vergangenen Jahren nicht gezögert, die Grenzen zu seinen Nachbarländern zu schließen, wenn es seine ökonomischen Interessen gefährdet sieht. Das hat zwar den Schmuggel europäischer Gebrauchtwagen über Benin nach Nigeria behindert, weniger aber den umgekehrten Schmuggel nigerianischen Öls über Benin nach Westafrika. Freunde macht sich Westafrikas Gigant dadurch allerdings weder in Afrika noch in Europa. Die Zukunft der Handelspolitik in Afrika dürfte nicht zuletzt von einer innernigerianischen Konfrontation entschieden werden: Nigerias protektionistisch orientierter Präsident Muhammadu Buhari und Nigerias ehemalige Finanzministerin und neue WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala – zwei politische Rivalen und Politikstile.
Das grundsätzliche Problem ist aber, dass EU und AU aneinander vorbeireden. Für die EU ist die AU kein Partner in Handelsfragen. Die AU will aber die vielen Einzelverträge unter ihrem Dach subsumieren. Als Vertreterin ihres Kontinents fühlt sie sich von China ernster genommen als von Europa. Die Handelsbeziehungen zu den USA, China, Indien, Südkorea, Dubai oder der Türkei gewinnen stark an Gewicht, und mit dem Brexit verlassen auch die Beziehungen zum Finanzplatz London und seinen Rohstoffmärkten den EU-Rahmen.
Es gibt ein weiteres Problem: Zur AU-Agenda eines geeinten Afrika gehört Bewegungsfreiheit innerhalb des Kontinents. Europa hingegen wünscht sich von afrikanischen Partnern schärfere Grenzkontrollen und steckt im Namen der Migrationsbekämpfung viel Geld in afrikanisches »Grenzmanagement«, was etwa die bisherige real existierende Reisefreiheit für Westafrikaner innerhalb Westafrikas aushebelt.
Nicht zuletzt überlagert seit März 2020 die Covid-19-Pandemie alles. Viele afrikanische Länder hielten als Teil von Präventionsmaßnahmen ihre Grenzen monatelang geschlossen, Warenströme kamen zum Erliegen oder wurden zumindest stark verlangsamt. Keine afrikanische Binnengrenze ist heute noch so frei passierbar wie vor zwei Jahren. Normalität im Handel mit Afrika und innerhalb Afrikas wird nicht zurückkehren, solange Afrika von globalen Impfprogrammen weitgehend ausgeschlossen bleibt.
Der Autor: Dominic Johnson lebt als Journalist in Berlin und bereist seit vielen Jahren regelmäßig afrikanische Länder.