Schuldenkrise nach Corona: Argentinien - Land in Notsituation
16.06.2021 I Ende 2020 leben 45 Prozent aller Argentinier_innen unterhalb der Armutsgrenze. Wirtschaft und Gesellschaft seien in so einer kritischen Lage, dass das Land einen Schuldenerlass bei der UNO einfordern müsse, erklären Gewerkschaften zusammen mit anderen.
Arbeit bleibt gleich, Reallohn sinkt.
In einer »Erklärung zum 25. Mai«, dem argentinischen Nationalfeiertag, fordern bekannte Persönlichkeiten des Landes die Einstellung der Schuldentilgungen bei den internationalen Finanzorganisationen. »Unser Land befindet sich in einer Notsituation, die es daran hindert, sich den Schuldenverpflichtungen zu stellen, die insbesondere mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen Organisationen geschlossen wurden«, heißt es in der Erklärung. Darunter stehen auch die Unterschriften aller wichtigen Gewerkschaftsführenden des Landes.
»Argentiniens Regierung muss die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds aussetzen«, fordert auch Alejandro López Mieres, der am Instituto de Pensamiento y Políticas Públicas (IPPYP) in Buenos Aires zu Wirtschaft und Verschuldung forscht. Stattdessen solle sich die Regierung, meint er, direkt an die Vereinten Nationen, die UNO, wenden. Der Währungsfonds ist eine Sonderorganisation der UNO. Dort solle sie einen teilweise Schuldenerlass sowie einen mehr als zehn Jahre laufenden Tilgungsplan einfordern.
Konkret geht es dabei um einen 2018 gewährten Kredit in Höhe von 57 Milliarden US-Dollar (47 Milliarden Euro), von denen 44 Milliarden Dollar (36 Milliarden Euro) an Argentinien ausgezahlt wurden. Es ist die mit Abstand größte Kreditsumme, die der IWF jemals einem Land bereitgestellt hat. Bis Ende 2021 müssen knapp 4,5 Milliarden Dollar (3,7 Milliarden Euro) davon getilgt werden. Milliarden, die die Regierung in Buenos Aires nicht aufbringen kann. Die laufenden Umschuldungsverhandlungen haben noch zu keinem Ergebnis geführt.
»Durch Schuldentilgung bedingte Einsparungen im Haushalt dürfen allein schon wegen der Konsequenzen der Pandemie nicht akzeptiert werden«, sagt López Mieres. Da die IWF-Statuten aber weder einen Schuldennachlass noch eine Kreditlaufzeit von mehr als zehn Jahren zuließen, müssten diese Forderungen an die Vereinten Nationen gerichtet werden. Argentinien käme damit eine Vorreiterrolle zu, so der Forscher des Instituts, das dem unabhängigen Gewerkschaftsverband Central de Trabajadores Argentinos Autónoma (CTAA) nahesteht. Der CTAA wurde 1992 als Alternative zu den traditionell peronistischen Gewerkschaftsverbänden gegründet. Er vertritt nach eigenen Angaben 1,2 Millionen Mitglieder.
Aber nicht erst die Folgen der Pandemie haben Argentiniens Wirtschaft und Gesellschaft in eine kritische Lage versetzt. Als der linksgemäßigte Alberto Fernández im Dezember 2019 das Präsidentenamt antrat, lebte bereits jede_r Dritte der rund 45 Millionen Argentinier_innen unterhalb der Armutsgrenze. Die Wirtschaftsrezession dauerte bereits zwei Jahre an. Die Inflationsrate betrug 2019 offiziellen Angaben zufolge 53,8 Prozent. Die Reallöhne der abhängig Beschäftigten sanken erneut, da die von den Gewerkschaften ausgehandelten Lohnerhöhungen den Kaufkraftverlust nicht ausgleichen konnten. Noch härter traf es jene, die sich im informellen Bereich der Ökonomie mit prekären Arbeitsverhältnissen durchschlagen müssen. Er macht gut 40 Prozent der Volkswirtschaft Argentiniens aus.
Im Kassenbuch des Staates standen Verbindlichkeiten von 312 Milliarden US-Dollar (256 Milliarden Euro), darunter auch die 44 Milliarden Dollar vom IWF. Präsident Alberto Fernández erklärte denn auch die Neuverhandlung dieser erdrückenden Schuldenlast zu einer zentralen Aufgabe. »Die Regierung sprach von einer nicht bezahlbaren Schuld und kündigte Verhandlungen zuerst mit den privaten Gläubigern und danach mit dem IWF an«, so López Mieres. Die Vorgabe war, die jährliche Schuldentilgung auf ein Maß zu reduzieren, das Investitionen durch den Staatshaushalt sowie einen finanziellen Handlungsspielraum für eine effektive Sozialpolitik ermöglichen sollte.
Im Oktober 2020 einigte sich die Regierung schließlich mit den größten privaten Gläubigern auf eine Reduzierung der Verbindlichkeiten sowie längere Laufzeiten für die Tilgungen. »Der große Erfolg dieser Umstrukturierung bei den Privaten bestand darin, dass der durchschnittliche Zinssatz halbiert und die Kapitallaufzeiten so verschoben werden konnten, dass bis 2023 nur sechs Prozent der ursprünglichen Tilgungssumme gezahlt werden muss«, erklärt er. Und doch war es nicht mehr als eine Atempause in dem im März 2020 vom Coronavirus erfassten Land. Durch Quarantäne und Lockdown schrumpfte die Wirtschaft im vergangenen Jahr um zehn Prozent. Mit flankierenden Maßnahmen versuchte die Regierung, die finanziellen Verluste vor allem der unteren Einkommensschichten einzudämmen, gewährte den Unternehmen Lohnzuschüsse. Wieder überstieg die Inflationsrate die vereinbarten Lohnanpassungen und wieder rutschten viele in die Armut ab. Ende 2020 lebten 45 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Wegen dieser Notsituation habe die Regierung starke Argumente für den Gang zu den Vereinten Nationen, sagt López Mieres. Das Kreditabkommen mit dem IWF verstoße gegen dessen eigene Statuten. Dort heißt es unter anderem, dass ein Land, welches sich in einer Situation der Kapitalflucht befindet, vom Fonds nicht unterstützt werden darf. »Während der damaligen Zeit betrug die Kapitalflucht aus Argentinien 77,3 Milliarden US-Dollar, von denen ein großer Teil aus den Dollarkrediten des Fonds stammt.«
Autor: Jürgen Vogt lebt in Buenos Aires. Er berichtet für verschiedene Medien aus den lateinamerikanischen Ländern.
Aus NORD I SÜD news II/2021 Schuldenrkise nach Corona
NORD I SÜD news per Email erhalten.