Schuldenkrise nach Corona: Umwelt-, Corona- und Schuldenkrise zusammendenken
15.06.2021 I In früheren Schuldenkrisen haben Länder oft ein ganzes Jahrzehnt verloren, weil es so lange gedauert hat, die Schuldentragfähigkeit wiederherzustellen. Schuldenerlasse, bei denen die freiwerdenden Gelder für ökologische Investitionen genutzt werden müssen, könnten ein Ausweg sein.
Die Welt ist in der vierten Schuldenwelle. Die ersten drei endeten alle mit einer Krise. In den 1980er Jahren gingen in der sogenannten Tequilakrise mehrere lateinamerikanische Länder pleite. In den 1990er Jahren betraf die sogenannte Asienkrise insbesondere Thailand, Indonesien und Südkorea. Die dritte Schuldenwelle, in der sich vor allem Privatpersonen überschuldet hatten, endete 2009 mit der Finanz-und Wirtschaftskrise. Und nun also die vierte Welle. Sie gewinnt durch Corona an Wucht. Begonnen hat sie indes schon im Jahr 2010, vor allem in Ländern des Globalen Südens. Dort erreichten die Schulden von Staat, Firmen und Privaten 2019 den Wert von 176 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Weltbank schätzt, dass allein die Staatsschulden im Jahr darauf um weitere 9 BIP-Prozentpunkte zunahmen.
Zugleich brachen wegen der Coronapandemie dann auch noch die Steuereinnahmen ein und die Ausgaben für Gesundheit und soziale Unterstützungsmaßnahmen stiegen sprunghaft an. Im Schnitt investierten die Länder des Globalen Südens 10 BIP-Prozente in Coronamaßnahmen, das zeigt eine Auswertung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, UNEP. Trotzdem nahm die Armut massiv zu: Die Weltbank schätzt, dass rund 120 Millionen weitere Menschen weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag verdienen, noch einmal 220 Millionen Menschen weniger als 3,20 Dollar. Angesichts dieser Armut und Schulden warnt UN-Chef Antonio Guterres: »Wir können nicht sehenden Auges in eine Schuldenkrise laufen, die vorherseh- und vermeidbar ist.«
»Wir können nicht sehenden Auges in eine Schuldenkrise laufen, die vorherseh- und vermeidbar ist.«
Die Weltbank teilt diese Sicht und mahnt zu zügigem Handeln: »Präventive Umschuldungen gehen mit besseren makroökonomischen Ergebnissen einher als Umschuldungen nach einem Konkurs.« Diese Mahnungen sind nicht zuletzt ein Eingeständnis, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen. Kurz nach Beginn der Coronakrise boten die G20-Staaten inklusive China den 73 ärmsten Ländern ein Schuldenmoratorium an, das 44 angenommen haben. Für diese Länder wird der Schuldendienst bis Ende 2021 gestundet. Weniger Schulden haben sie dadurch allerdings nicht.
Da hilft die zweite Maßnahme schon eher: Der Internationale Währungsfonds (IWF) plant, quasi aus dem Nichts 650 Milliarden US-Dollar zu schaffen. Möglich macht das die IWF-eigene Währung, die Sonderziehungsrechte (SDRs). Die neu geschöpften SDRs werden gemäß ihren Quoten an die IWF-Mitglieder verteilt. Das heißt: Große und reiche Länder bekommen mehr als kleine und arme. Trotzdem bleiben auch für diese noch Milliarden. Für die ärmsten Länder sind es SDRs im Wert von 21 Milliarden US-Dollar, für andere Entwicklungsländer (ohne China) SDRs im Wert von 212 Milliarden Dollar.
Aber auch das wird letztlich nicht reichen. Laut dem IWF sind aktuell mehr als die Hälfte der 70 ärmsten Länder der Welt in Gefahr, in eine Schuldennotlage zu geraten. Zumindest bei diesen Ländern haben dies auch die G20-Staaten eingesehen. Sie schufen im Dezember einen sogenannten gemeinsamen Rahmen (engl. Common Framework), der Schuldenerlasse als letztes Mittel vorsieht. »Dass sich die G20 Staaten so schnell auf den Common Framework einigen konnten, ist bemerkenswert«, sagt Kristina Rehbein von der Entwicklungsorganisation erlassjahr.de. »Die Gläubigerstaaten haben eingesehen, dass sie präventiv handeln sollten.« Bislang haben allerdings erst drei Länder Verhandlungen unter dem Common Framework beantragt: Sambia, Äthiopien und Tschad.
Rehbein kritisiert, dass das Moratorium wie auch der Common Framework nur den ärmsten Ländern offen steht.
Kleinen Inselstaaten, wie Mauritius, fehlen Einnahmen aus Tourismus. Sie sind auch vom Klimawandel besonders betroffen, können das Moratorium und den Common Framework aber nicht in Anspruch nehmen, da sie über ein sogenanntes mittleres Einkommen verfügen.
»Das Absurde ist, dass den Ländern gemäß der Höhe des Einkommens Zugang gewährt wird und nicht gemäß der Größe des Schuldenproblems.« Viele kleine Inselstaaten hätten etwa große Verluste, weil der Tourismus wegfällt. Doch da sie über ein sogenanntes mittleres Einkommen verfügen, können sie den Common Framework nicht in Anspruch nehmen. Dabei seien diese Staaten oft auch besonders von der Klimakrise betroffen – eine Kombination, die nach Worten von IWF und Weltbank »ein systemisches Risiko für die Weltwirtschaft darstellt«. Oder anders: Die Umwelt-, Corona- und Schuldenkrisen müssen zusammengedacht werden.
Genau das machen drei Studien der Heinrich Böll Stiftung, der Entwicklungsorganisationen Brot für die Welt und Erlassjahr und des Thinktanks New Climate Institute. Diesen Studien ist gemein, dass sie die drei Krisen zusammen analysieren, und auch bei den Lösungsvorschlägen gibt es Parallelen: Länder in einer Schuldennotlage wird ein teilweiser Schuldenerlass angeboten, wenn sie einen Teil der neu gewonnenen finanziellen Flexibilität für grüne Investitionen nutzen. Der frühere britische Premierminister Gordon Brown sagte bei der Vorstellung der Böll-Studie: »Indem wir den Armen die Schulden erlassen und das Geld für die Bekämpfung des Klimawandels freigeben, können wir beginnen, die Welt zu verändern.«
Auch der Internationale Gewerkschaftsbund fordert Entschuldung und Investitionen zur gleichzeitigen Bekämpfung der multiplen Krisen im Bereich Arbeit und Bildung, Gesundheit und Soziales sowie Klima. Generalsekretärin Sharan Burrow mahnt jedoch, dass Lippenbekenntnissen nun eine praktische Abkehr von der gescheiterten Austeritätspolitik der vergangenen Jahre folgen muss. Deren verheerenden Auswirkungen haben sich im Bereich Bildung, soziale Sicherung und Gesundheit in der Coronakrise besonders deutlich gezeigt.
Auch der Internationale Gewerkschaftsbund fordert Entschuldung und Investitionen zur gleichzeitigen Bekämpfung der multiplen Krisen.
Mittlerweile mehren sich auch die Zeichen, dass es tatsächlich zu Schuldenschnitten kommt. Bei einem Treffen mit afrikanischen Staaten hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu einem »New Deal für Afrika« aufgerufen, um »die Grundlagen für einen neuen Wachstumszyklus auf dem Kontinent zu legen«. Zuvor hatte sein Land dem Sudan Schulden im Wert von fünf Milliarden Dollar erlassen. Und auch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hat sich für Schuldenschnitte ausgesprochen. Damit diese Maßnahmen aber tatsächlich den richtigen Ländern zugutekommen, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: China als größter bilateraler Geldgeber der Welt muss sich an diesen Erlassen beteiligen. Und das Gleiche gilt für kommerzielle Gläubiger wie Banken oder Hedgefonds. »Viel hängt davon ab, ob es den G20 gelingt den Privatsektor miteinzubeziehen«, sagt Rehbein.
Die »ordnungspolitisch sauberste Lösung« dazu sei ein Insolvenzrecht für Staaten sagt Rehbein. Dieses zu schaffen, hat unter anderem der IWF schon mehrfach versucht, er ist aber jedes Mal gescheitert. Rehbein hofft, dass die Coronakrise nun den entscheidenden Impuls bringt, ist aber nicht allzu optimistisch: »In der Krise ist es schwer, Reformen umzusetzen, und wenn dann nach der Krise der große Aufschwung einsetzt, ist das Thema wieder vom Tisch. Das darf nicht wieder passieren.«
Der Autor: Christian Mihatsch ist freier Journalist und lebt in Chiang Mai