„Unser Ernährungssystem krankt“ – Kampagne für ein nachhaltiges Ernährungssystem startet im September
01.07.21 I Kommenden September startet die europaweite Kampagne ‚Our Food. Our Future‘ (Unser Essen, unsere Zukunft), die von der Menschenrechts-NRO Christliche Initiative Romero (CIR) initiiert wurde. Die Kampagne zielt auf einen nachhaltigen Wandel des Ernährungssystems und faire Agrarlieferketten ab, um globale Probleme wie Umweltzerstörung, Flucht und Vertreibung zu bekämpfen. Dafür will sie die europäische Jugend für die Arbeits- und Umweltstandards in den Erzeugerländern sowie das Machtgefalle entlang der Lieferketten sensibilisieren.
Ein Interview mit Dominik Groß, Referent für Menschenrechte und Klimaschutz in Agrarlieferketten bei der Menschenrechtsorganisation Christliche Initiative Romero (CIR), über Lieferketten, gerechten Welthandel und die neue Kampagne ‚Our Food. Our Future‘
DGB-Bildungswerk BUND: Die Kampagne “Our Food. Our Future” fordert einen Wandel unseres Ernährungssystems und nennt es ‚kaputt‘. Was ist so kaputt daran?
Dominik Groß (CIR): Die Zuschreibung ‚kaputt‘ mag verwundern, denn bei uns bekommt man im Supermarkt alles, und zwar zu erschwinglichen Preisen. Die großen Konzerne machen dabei noch große Gewinne. Am Anfang der Wertschöpfungskette entstehen aber Kosten, die nicht auf unserem Kassenbon stehen oder für die die Konzerne aufkommen. Das sind Belastungen auf dem Rücken der Arbeiter_innen und lokaler Gemeinden im globalen Süden, oder Zerstörungen der Umwelt wie die Rodung riesiger Waldflächen. Menschen müssen unter schlimmen Bedingungen arbeiten, ohne fair entlohnt zu werden oder unter würdigen Bedingungen zu arbeiten. Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch vor der eigenen Haustür. Die Fälle aus der heimischen Spargelindustrie zeigen, da werden die Arbeiter_innen um ihren Mindestlohn betrogen. In unseren Augen ist dieses System dysfunktional, für viele Menschen und die Umwelt funktioniert es nicht.
Ihr problematisiert die Produktionsverhältnisse von Nahrungsmitteln – insbesondere aus Brasilien. Was macht den Genuss von brasilianischem Kaffee so bitter?
Brasilien ist mit über 30 Prozent Marktanteil weltweit der größte Kaffeelieferant. Es gibt umfangreiche Belege, dass Arbeiter_innen auf den Kaffee-Plantagen unter teilweise sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Das sind meist Binnenmigrant_innen, die über Wochen täglich 14 Stunden arbeiten, keine freien Tage haben und gezwungen sind, auf dem Boden zu schlafen, weil es keine Unterkunft gibt. Die Besitzer_innen behalten ihre Ausweise ein, um sie an sich zu binden. Das sind sklavereiähnliche Verhältnisse. Ähnliche Arbeitsbedingungen gibt es aber bei den meisten landwirtschaftlichen Produkten. Die staatliche Kontrolle ist vollkommen unzureichend und unter der Regierung des Präsidenten Jair Bolsonaro schaut der Staat noch weniger hin.
Die Kampagne prangert an, dass von einem Euro, den ich im Supermarkt für Orangensaft zahle, nur sieben Prozent bei den kleinbäuerlichen Produzent_innen ankommen. Beim Lebensmittelkonzern bleiben 20 Prozent. Welche politischen Lösungen fordert die CIR?
Wir engagieren uns in Fair-Trade-Initiativen. Das ist ein Hebel, um ökologisch-fairen Handel zu stärken. Da können Konsument_innen einen ersten Schritt machen. Aber Label allein reichen nicht, um die gigantische Ungleichheit zu bekämpfen. Die Verantwortung sollte nicht allein bei NGOs oder den Verbraucher_innen liegen. Wir setzen im Straßenverkehr bei der roten Ampel auch nicht auf Freiwilligkeit. Die Regeln gelten zurecht für alle. Wer dagegen verstößt, gefährdet andere und wird bestraft. Das brauchen wir im globalen Handel mit Lebensmitteln auch. Darum ist ein Lieferkettengesetz wichtig. Und um die Marktmacht der Konzerne zu begrenzen, bräuchten wir eine internationale Handelsgesetzgebung oder eine gemeinsame Agrarpolitik, die die Produktionsenden mitdenkt.
Die Bundesregierung hat sich gerade auf ein Lieferkettengesetz geeinigt hat. Inwiefern könnte dies etwas an der Situation in Brasilien ändern?
Es ist erstmal ein Erfolg und eine Zäsur. Die CIR hat lange für ein Lieferkettengesetz gekämpft. Dennoch hat die Union dem Gesetz wichtige Zähne gezogen. Unternehmen müssen nur bei unmittelbaren Lieferanten präventiv tätig werden. Das hier ansässige Unternehmen ist auch nach dem neuen Gesetz nicht für menschwürdige Arbeitsbedingungen in der gesamten Lieferkette verantwortlich. Zudem entfällt die zivilrechtliche Haftungspflicht. So bleibt Geschädigten, z.B. der Orangenpflückerin aus Brasilien, der Gang vor ein deutsches Gericht verwehrt. Das alles entbindet hiesige Unternehmen ihrer Verantwortung hinzuschauen und ebnet den Weg für Ausbeutung. Darum werden wir für Nachbesserungen und ein starkes Lieferketten-Gesetz auf EU-Ebene kämpfen.
Die Christliche Initiative Romero pflegt traditionell enge Partnerschaften nach Mittelamerika. In Euer Arbeit taucht aber immer wieder Brasilien als Schwerpunkt auf. Warum?
Brasilien ist eines der größten Exportländer von Agrarprodukten und der Handel zwischen Brasilien und Deutschland und der EU blüht. Ein Schwerpunkt der CIR ist der Lebensmittelbereich. Gleichzeitig hat Brasilien eine ungeheuer starke Zivilgesellschaft und wir arbeiten mit großen Partnern wie Repórter Brasil zusammen, die sich für würdige Arbeitsbedingungen oder nachhaltige Ernährung einsetzen. Es ist angesichts der Ausmaße brasilianischer Exporte von Rindfleisch, Orangensaft oder Kaffee nach Deutschland wichtig, Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen zu machen, die Brasilien betreffen. Wir können aufzeigen, was die Agrarmultis in dem Land anrichten. Hierdurch können wir etwas an den Produktionsverhältnissen verändern. Und das trotz oder gerade wegen der schlimmen Entwicklungen der letzten Jahre.
Die Kampagne soll vor allem junge Menschen zum Mitmachen bewegen. Nicht die Älteren?
Das Thema Ernährung und der Wunsch nach Veränderung haben bei jüngeren Menschen einen sehr hohen Stellenwert. Doppelt so viele Junge ernähren sich vegetarisch oder vegan im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt. Wir beobachten, dass es da viele neue Ansätze und thematisch Verbindendes gibt. Es geht sowohl um Gerechtigkeitsfragen als auch um die Klimafrage. Das imponiert uns sehr. Aber natürlich sind alle eingeladen. Im besten Fall ergänzen sich die Perspektiven und die Jüngeren profitieren von den Erfahrungen älterer Generationen und die Älteren von dem Schwung, der die Bewegung erfasst hat.
Dominik Groß, Referent für Menschenrechte und Klimaschutz in Agrarlieferketten bei der Menschenrechtsorganisation Christliche Initiative Romero (CIR). Foto: Maren Kuiter
Interviewer: Mario Schenk