Wenn das Gift vom Himmel rieselt.
Brasilien: Opfer von Pestizid-Einsätzen kämpfen gegen die Soja-Industrie
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil und Agência Pública
9.11.21 | Brasiliens Agrarwirtschaft setzt immer mehr auf Pestizide. Das zieht sowohl Mensch als auch Natur in Mitleidenschaft. Nahezu jeden zweiten Tag stirbt ein Mensch durch den Kontakt mit einer Agrarchemikalie. Doch weil ein Nachweis über die Verbindung zwischen Krankheit und Vergiftung durch Pestizide so schwierig zu erbringen ist, erhalten die Betroffenen meistens weder eine Behandlung noch eine Entschädigung. Zudem versucht eine starke Soja-Lobby, Klagen im Keim zu ersticken, wie der Fall des Dorfes Araçá im Norden Brasiliens zeigt.
“Nachdem das Flugzeug über unsere Dächer geflogen war, wurden wir krank. Wir kämpfen um Entschädigung und brauchen Unterstützung!”. Seitdem ein Agrarflieger Ende April dieses Jahres seine Pestizide über ein Soja-Feld verteilte und dabei das Dorf Araçá im Norden Brasiliens überflog, klagt die Bäuerin Antônia Peres über Symptome einer Vergiftung. Auch drei Monate später leiden Antônia, ihr siebenjähriger Sohn und weitere Dorfbewohner_innen an Kopfschmerzen, Übelkeit, Atemnot und Juckreiz. Eine Behandlung gegen die mögliche Vergiftung haben sie bis heute nicht erhalten. Die Ermittlungen der Behörden zu diesem Vorfall ziehen sich hin und der verantwortliche Soja-Produzent, Gabriel Introvini, streitet jeden Zusammenhang ab.
Dabei zeigen Videos der Bewohner_innen von Araçá, wie das Flugzeug mehrere Kreise über ihren Häusern zieht. Und die Bilder dokumentieren die Flecken und Wunden, die sich seither auf dem Körper von Antônias Sohn ausgebreitet haben. Der Vorfall ist eine weitere Episode in einem Konflikt zwischen den Soja-Produzent_innen der Region und den zwei kleinbäuerlichen Gemeinden Araçá und Carranca im Bundesstaat Maranhão. Mehrfach erhielten sie die Drohung, man werde sie vergiften, wenn sie nicht verschwinden – so berichteten die Bewohner_innen gegenüber Repórter Brasil, Partner des DGB-Bildungswerkes BUND, und dem Rechercheportal Agência Públicas.
Trotz der Schwere der Anschuldigungen kommen weder die zuständigen Gesundheits- oder Umweltbehörden noch die Polizei mit ihren Ermittlungen voran.
Trotz der Schwere der Anschuldigungen kommen weder die zuständigen Gesundheits- oder Umweltbehörden noch die Polizei mit ihren Ermittlungen voran. Und während die betroffenen Kleinbäuer_innen auf das Ergebnis der vom Gesundheitsamt gemachten Bluttests warten, behauptet der Präsident des Verbandes der Soja-Produzent_innen (Associação Brasileira de Produtores de Soja, Aprosoja), Vilson Ambrozi, die Test-Ergebnisse bereits zu kennen.
“Die Gutachten räumen jeden Zweifel zu einhundert Prozent aus. Da ist nichts passiert, was auch nur annähernd irgendeinen Juckreiz oder Unbehagen verursacht haben könnte“, gibt sich der Aprosoja-Chef sicher. Seiner Meinung nach deuten die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass nicht eine Vergiftung durch Pestizide, sondern die Krätze die Ursache der Krankheitssymptome sei. „Schaut man das Foto einem Arzt, wird dieser zweifellos die Krätze identifizieren. Der Ausschlag zwischen den Fingern und unter den Achsel kann unmöglich von einem Insektizid stammen“, so der Soja-Vertreter.
Anders sieht das die Medizinerin Lilimar Mori. Nach vielen Jahren Erfahrung in der Behandlung von Menschen, die von einem Pestizideinsatz betroffen sind, stuft sie die Bilder als nicht aussagekräftig ein. „Auf Basis der Videos allein, lässt sich nicht sagen, was die Ursache des Ausschlags ist. Es kann sich um eine Reaktion auf eine chemische Substanz handeln. Es kann aber auch ein bakterieller Befall sein.“ Der Vorsitzende der Gemeinschaft von Araçá, Edimilson Silva de Lima, ist sicher, dass Ausschlag und Juckreiz direkt auf die “Pestizid-Dusche“ folgten.
Staatliches Versagen bei der Ursachenklärung
Fachmediziner_innen, die Fälle wie diesen begleiten, betonen, es sei zwingend erforderlich, dass die Tests zeitnah nach einem Kontakt mit den Giften erfolgen, um die chemischen Substanzen im Körper nachweisen zu können. „Abhängig vom Pestizid dauert es bis zu 72 Stunden, bis es der Organismus abgebaut hat. Danach hat meinen keinen sicheren Nachweis mehr“, warnt Medizinerin Mori. Daher sei es notwendig, dass die Behörden umgehend reagieren. Doch das Gegenteil geschah in Araçá. Angestellte der Gesundheitsbehörde erschienen erst zwei Wochen nach der ersten Anzeige.
Eine derart späte Untersuchung kann lebensbedrohlich sein. Solange es keine Resultate gibt, bekommen die Bewohner_innen keine Behandlung gegen eine mögliche Vergiftung.
„Als uns die Meldungen aus dem Dorf erreichten, brach das Team sofort auf. Aber da war es bereits zu spät, um bei den Betroffenen eine eventuelle Vergiftung durch ein Pflanzenschutzmittel nachzuweisen“, bedauert die regionale Koordinatorin für Gesundheitsschutz, Jakeline Maria Trinta Rios. „Darum nahmen wir nur Proben von den zwei Personen, die Hinweise auf eine Erkrankung oder Verbrennungen infolge des Kontaktes mit Pflanzenschutzmitteln zeigten“, so Trinta Rios. Von weiteren Personen sammelte die Polizei Bluttests. Das passierte jedoch erst nach einer Woche oder gar erst einen Monat nach dem Vorfall.
Eine derart späte Untersuchung kann lebensbedrohlich sein. Solange es keine Resultate gibt, bekommen die Bewohner_innen keine Behandlung gegen eine mögliche Vergiftung. „Es gibt kein Gegenmittel gegen Agrarchemikalien. Bei akut Betroffenen können wir nur versuchen, das Leben zu erhalten“, warnt Solange Garcia, Professorin für Toxikologie an der Universität von Rio Grande do Sul. Dazu müsse man die Opfer regelmäßig und über einen längeren Zeitraum mit Tests der Leber, Nieren, Haut und Nerven begleiten. Auch das passiert in Araçá nicht.
Dabei sind die gesundheitlichen Risiken von Pestizidausbringungen in Brasilien altbekannt. Zwischen 2007 und 2017 erlitten 40.000 Personen eine akute Vergiftung durch Pestizide. Fast 1.900 von ihnen starben.[1] Somit stirbt in Brasilien fast jeden zweiten Tag ein Mensch durch den Kontakt mit einer Agrarchemikalie. „Die Opferzahl liegt wahrscheinlich um ein Zigfaches höher“, befürchtet Larissa Mies Bombardi, Forscherin an der Universität São Paulo (USP) und Autorin einer Studie zu Agrochemikalien in Brasilien. Schließlich werde die Mehrheit der Fälle gar nicht erfasst. Ihre Studie zeigt: die Opfer sind zu 25 Prozent Kinder und Jugendliche.[2]
Der Staat verzögert, der Soja-Produzent wiegelt ab
Indessen schreitet auch die polizeiliche Ermittlung zu den Vorwürfen der Vergiftung nur langsam voran. Das kriminaltechnische Institut des Bundesstaates teilte bislang mit, dass man dabei sei, die Boden-, Wasser- und Blutsproben auszuwerten. Doch aufgrund der großen Anzahl von Proben brauche die Auswertung weitere sechzig Tage.
Tests mit so viel Verspätung können zu einem falschen Ergebnis führen und spielen den Beschuldigten in die Hände. „Nach drei Tagen kann man jeden Beweis vergessen. Dieses verzögerte Vorgehen kann auch absichtlich sein”, gibt Mori zu bedenken.
Staatsanwalt Laécio Ramos do Vale beschwichtigt, dass man sich beeile. Jedoch benötige die Untersuchung aufgrund des Umfangs mehr Zeit. „Ob es nun über dem Dorf war, oder ob die korrekte Distanz beim Überflug eingehalten wurde, ob der Wind die Substanzen hinübergetragen haben könnte – das alles wird derzeit untersucht“, so Ramos do Vale. Darum beantragte die Polizei eine Verlängerung von neunzig Tagen für ihren Abschlussbericht.
Bis heute sind die Verantwortlichen für das Besprühen um die Gemeinden Araçá und Carranca weitgehend unbehelligt von der Justiz. Die bisherigen Anklagen gegen sie entsprechen in keiner Weise der Schwere der Vorwürfe. Der Soja-Produzent Introvini wurde vom Umweltministerium wegen fehlender Genehmigung zum Versprühen von Pestiziden zu einer Strafzahlung verpflichtet. Zwar urteilte im Mai ein Gericht, dass Introvini für einen Monat vorsorglich die ärztliche Versorgung der Opfer zu bezahlen habe. Laut Anwohner_innen des Dorfes sammelten die entsandten Ärzte jedoch nur Berichte von Betroffenen. Introvinis Anwalt bestreitet die Vorwürfe nach wie vor. Man habe die Pestizide sechs Kilometer von den Siedlungen Araçá und Carranca entfernt versprüht. Die mit dem Besprühen beauftragte Agrarflugfirma Flórida Aviação Agrícola muss sich wegen fehlender Registrierung rechtfertigen. Und ein weiterer Soja-Landwirt und Besitzer einer benachbarten Farm, Sergio Strobel, der auch von dem Pestizid-Einsatz profitierte, ist bislang ohne Anklage.
Die Macht der Soja-Lobby und politische Verstrickungen
Dennoch führten die Ereignisse dazu, dass ein Bezirksrichter jede weitere Ausbringung von Pestiziden im Landkreis Buriti, in dem Araçá liegt, aus der Luft und am Boden untersagt hat, solange keine Genehmigung der Umweltbehörde vorliege. Das Verbot ist ein Novum im Bundesstaat Maranhão und schlug unter Farmern und Flugfirmen ein wie eine Bombe. Im benachbarten Bundesstaat Ceará und in einigen Städten des Landes verbieten mittlerweile Gesetze das Besprühen von Feldern aus der Luft. In weiteren Landkreisen sind entsprechende Gesetzesvorhaben auf dem Weg. Urteile wie das von Buriti werden in Brasilien immer häufiger gefällt und bedrohen aus Sicht der Soja-Lobby das Geschäft und werden als gefährliche Präzedenzfälle bekämpft.
„Sobald irgendwo eine Verfügung das Versprühen aus der Luft verbietet, gehen die Lobby-Verbände dagegen vor, um zu verhindern, dass das als Vorbild dienen könnte“, bestätigt Luis Fernando Cabral Barreto Junior, Staatsanwalt für Umweltfragen des Bundesstaates. Um die wenigen Verbote außer Kraft zu setzen, sind einige Giganten des Agrarsektors sowie aus der Agrarluftfahrt vor das Oberste Bundesgericht (Supremo Tribunal Federal, STF) gezogen. Ein Urteil steht noch aus.
Solange Soja-Export und Pestizid-Markt boomen, stören die Sprühverbote. Agrarwirtschaft und Politik gehen deshalb Hand in Hand.
Solange Soja-Export und Pestizid-Markt boomen, stören die Sprühverbote. Agrarwirtschaft und Politik gehen deshalb Hand in Hand. Im Fall von Araçá ist sich der oberste Soja-Lobbyist der Region, Ambrozi, der Unterstützung der Politik gewiss. „Der Gouverneur wird persönlich dafür sorgen, dass die Behörden in dem Fall ihre Arbeit richtig machen“. Es ist leicht vorstellbar, welchen Einfluss der Lobby-Verband in den Ministerien des Bundesstaates hat. Sowohl die zwei beklagten Soja-Produzenten als auch der zuständige Minister für Landwirtschaft kennen sich gut aus ihrer gemeinsamen Zeit im Vorstand der Aprosoja im Jahr 2018.
„Die Gutachten werden zeigen, dass kein Bisschen irgendeiner chemischen Substanz über die Gemeinde verteilt worden ist“, so Ambrozi weiter. Das gefilmte Flugzeug hätte nur einen Rundflug über der Siedlung gedreht. Anhand des Board-GPS ließe sich eindeutig belegen, dass die Sprühvorrichtung beim Überflug bereits ausgeschaltet war. Sollte die Reportage von Repórter Brasil und Agência Pública etwas Gegenteiliges behaupten, so Ambrozi, werde man rechtliche Schritte einleiten. „Vorsicht beim Veröffentlichen! Wir werden uns die Seite anschauen und die verantwortliche Person vor Gericht bringen“, drohte der Chef der Soja-Lobby.
Brasilien – Land der Pestizide und Rechtlosigkeit auf dem Land
Trotz Kritik aus der Wissenschaft und Klagen von ländlichen Gemeinden hält die Agrarwirtschaft an der massiven Sprühpraxis fest und flankiert dies über ihre starke Lobby. Umsätze in Milliardenhöhe stehen auf dem Spiel und man fürchtet um seinen Platz auf dem Weltmarkt. Denn in den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich Brasilien hinter der EU zum zweitgrößten Exporteur landwirtschaftlicher Erzeugnisse auf dem Weltmarkt entwickelt.[3] Das südamerikanische Land verschiffte zuletzt Agrarprodukte im Wert von 101 Milliarden US-Dollar, meist Soja für die Viehzucht. Um diese Dimensionen zu erreichen, setzt Brasiliens industrielle Landwirtschaft auf Chemikalien. Im Jahre 2017 wurden laut brasilianischer Umweltbehörde Ibama fast 500.000 Tonnen Pestizide versprüht und mit deren Verkauf zehn Milliarden US-Dollar umgesetzt.[4] Mehr als in den USA, China oder in Deutschland, wo beispielsweise rund zwei Mrd. US-Dollar für Schädlingsbekämpfungsmittel ausgegeben wurden.
Doch wie der Fall von Araçá zeigt, geht das Geschäft auf Kosten von Mensch und Natur. Die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) vermutet, dass in Brasilien jährlich 1,9 Kilogramm Chemikalien pro Kopf versprüht werden. Das wäre das Dreifache des Pro-Kopf-Verbrauchs in Deutschland.[5] Dabei verfügt Brasilien über eine viel größere, kleinbäuerliche Landwirtschaft, die gänzlich ohne oder nur mit geringem Einsatz von Chemikalien produziert und bei Grundnahrungsmitteln wie Reis und Bohnen 40% der Produktion bereitstellt, und zwar auf weniger als 25% der Ackerfläche.[6] Häufig werden die bäuerlichen Gemeinden durch das Ausbringen von Pestiziden auf benachbarten Plantagen in Mitleidenschaft gezogen. Doch weil die Verbindung zwischen Krankheit und Vergiftung durch Pestizide so schwierig nachzuweisen ist, erhalten die Betroffenen oftmals weder einer Behandlung noch eine Entschädigung, wie eine Studie der Menschenrechtsorganisation FASE zeigt.[7] Somit herrscht eine Rechtlosigkeit für Kleinbäuer_innen auf dem Land.
Autorin: Hélen Freitas, Repórter Brasil / Agência Pública
Übersetzung/Redaktion September 2021: Mario Schenk
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Eingeschobene Absätze sind von der Redaktion erstellt. Der Originaltext erschien am 05.08.21.
Diese Reportage ist Teil des Projektes „Por Trás do Alimento” („Was hinter unserem Essen steckt“), eine Kooperation zwischen Agência Pública und Repórter Brasil, die den Einsatz von Pestiziden zu untersucht.
[1]https://g1.globo.com/economia/agronegocios/globo-rural/noticia/2019/03/31/brasil-tem-40-mil-casos-de-intoxicacao-por-agrotoxicos-em-uma-decada.ghtml, eingesehen am 28.09.2021.
[2]https://www.redebrasilatual.com.br/saude-e-ciencia/2018/06/25-das-vitimas-dos-agrotoxicos-sao-criancas-e-adolescentes/, eingesehen am 28.09.2021.
[3] https://g1.globo.com/economia/agronegocios/noticia/2021/06/01/brasil-e-o-4o-maior-produtor-de-graos-atras-da-china-eua-e-india-diz-estudo.ghtml, eingesehen am 28.09.2021.
[4] https://consumidor.mppr.mp.br/2019/04/112/Brasil-registra-40-mil-casos-de-intoxicacao-por-agrotoxicos-em-uma-decada.html, eingesehen am 28.09.2021.
[5] http://repositorio.ipea.gov.br/bitstream/11058/9371/1/td_2506.pdf, eingesehen am 28.09.2021.
[6] https://www.agrarkoordination.de/uploads/tx_ttproducts/datasheet/Kartenset_Kleinbauern_low_05.pdf, eingesehen am 19.10.2021.
[7] https://fase.org.br/wp-content/uploads/2020/12/cartilha_agrotoxico_final.pdf, eingesehen am 28.09.2021.
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