Wie Brasiliens Fleischindustrie von Sklavenarbeit profitiert
Ein Text unserer Partnerorganisation Repórter Brasil
07.06.2021 I Brasilianische Fleischkonzerne, die auch nach Deutschland exportieren, beziehen Fleisch von Farmen, die Arbeiter_innen unter sklavenähnlichen Bedingungen beschäftigen. Durch Kontrollen konnten im letzten Jahr 1.736 Personen aus Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft befreit werden. Die Dunkelziffer ist wohl zehn Mal höher.
Die Arbeiter_innen hatten kein Trinkwasser zur Verfügung und keine Möglichkeit, Lebensmittel zu kühlen.
Zwei Giganten der brasilianischen Fleischindustrie, JBS und Marfig, kauften bei einem Rinderzüchter, lange nachdem ihn Inspekteur_innen des Wirtschaftsministeriums der Sklavenarbeit überführt hatten. Dies fand die brasilianische NRO Repórter Brasil, Partner des DGB Bildungswerk BUND, heraus, als sie die Bewegungen der Herde des Viehzüchters Maurício Pompeia Fraga für eine Recherche nachverfolgte.
Repórter Brasil
Die NRO Repórter Brasil ist eine wichtige Partnerorganisation des DGB Bildungswerk BUND im Kampf gegen die Ausbeutung von Arbeitnehmer_innen bis hin zum Kampf gegen Sklaverei. Verdient durch seine Enthüllungen über Verletzungen von Sozial-, Umwelt- und Arbeitsrechten wie Zwangsarbeit in der Textilindustrie oder in der Landwirtschaft ist Repórter Brasil seit 2001 zu einem wichtigen Sprachrohr der Arbeits- und Menschenrechtsbewegung in Brasilien geworden.
Demnach machten Arbeitsinspektor_innen im Juni 2018 30 Angestellte von Fraga, darunter auch einen 16-Jährigen, dabei ausfindig, wie sie zu Fuß 3.850 Rinder über eine Strecke von 900 Kilometern begleiteten. Wäre der Transport nicht durch die Inspektion gestoppt worden, hätte er vier Monate gedauert: ohne arbeitsfreie Zeit, ohne Schlafplatz, ohne Trinkwasser. Während der Reise übernachteten die Arbeiter_innen meist am Straßenrand in Zelten aus Plastikplanen. Sie schliefen auf Schaumstoffen, die sie zum Reiten der Tiere verwendeten oder direkt auf dem Boden. Sie tranken das Wasser aus Flüssen und Bächen und hatten keinen Zugang zu Toiletten. Zum Essen stand ihnen ein Karren mit einem Herd, aber ohne Kühlung zur Verfügung.
Keiner von ihnen hatte einen regulären Arbeitsvertrag. Ihren Lohn in Höhe von 45 bis 60 Reais pro Tag, etwa 10 bis 14 Euro, sollten die Arbeiter_innen erst am Ende der viermonatigen Reise erhalten, wenn sie das Vieh auf Fragas Ranch im nördlichen Bundesstaat Pará, abgeliefert hätten. Falls auf der Strecke eine Kuh verstarb, sollten sie für den Verlust aufkommen, sobald die Verlustmarge von zwei Prozent des Transports überschritten war. Für jedes tote Rind wollte Fraga 1.800 Reais, etwa 415 Euro, einbehalten. Etwa zehn Personen waren für jeweils ein Drittel der Herde, also knapp 1.300 Tiere verantwortlich.
In dieser ausbeuterischen Arbeitssituation sahen die Arbeitskontrolleure sklavereiähnliche Bedingungen gegeben. In 33 Fällen verstieß Fraga gegen das Arbeitsrecht, weswegen gegen ihn Anklagen erhoben und Geldstrafen verhängt wurden. Im Moment der Kontrolle befand sich Fraga auf einer Kreuzfahrt vor Italien. Die Inspekteur_innen hatten vergeblich versucht, ihn zum Ort des Geschehens zu bestellen, um die Arbeiter_innen zu entschädigen und den Abtransport der Tiere zu arrangieren.
Rindfleisch - von der Sklavenarbeit auf den Grill
Der Rinderzüchter Fraga war und ist mit dieser Praxis in Brasilien kein Einzelfall. In der „Schmutzigen Liste“ der Sklavenarbeit („Lista Suja“) listet das brasilianische Wirtschaftsministerium aktuell 92 Arbeitgeber auf, die in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 1.736 Personen unter sklavereiähnlichen Bedingungen beschäftigt haben.
Die „Schmutzige Liste“ der Sklaverei
Im Jahr 2003 schuf die linksgeführte Regierung unter dem Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (PT) die „Schmutzige Liste“ der Sklavenarbeit, die „Lista Suja“. Die Regierung reagierte damit auf den öffentlichen Druck, der die mangelnde Aufklärung und hohe Straflosigkeit bei Fällen von sklavereiähnlicher Arbeit problematisierte. Dieses Verzeichnis führt Namen der Arbeitgeber auf, die von Arbeitsinspektoren zu Geldstrafen verurteilt wurden, weil sie Angestellte sklavereiähnlicher Arbeit ausgesetzt haben. Die Liste wird seit 2003 vom Arbeitsministerium bzw. seit 2019 vom Wirtschaftsministerium erstellt und veröffentlicht. Wer auf der Liste steht, erhält keine öffentlichen Aufträge und Unternehmen werden gewarnt, mit den Sklavenhaltern Geschäfte zu machen. Die Liste hat sich in Brasilien zu einem der wichtigsten Instrumente im Kampf gegen sklavereiähnliche Arbeit entwickelt und wird von den UN als wirkungsvolles Mittel empfohlen. Im September 2020 bestätigte der Oberste brasilianische Gerichtshof (STF) einstimmig die Verfassungskonformität der „Schmutzigen Liste“. Da die von einem Ministerium geführte Liste selbst keine Sanktionen vorsieht, greife sie nicht ins Strafrecht ein, sorge aber für notwendige Transparenz, so Bundesrichter Marco Aurélio Mello.
In der jüngsten Veröffentlichung dieser Liste vom 5. April 2021 fanden sich 19 Arbeitgeber neu in der Liste wieder, die zusammen 231 Menschen ausgebeutet hatten. Die Unternehmen stammen aus der Textilindustrie, der Bauwirtschaft oder dem Bergbau – vor allem aber aus der Agrar- und Viehwirtschaft. Seit 1995 wurden in Brasilien 56.000 Menschen aus Formen moderner Sklaverei befreit. Die Betroffenen waren in diesen Verhältnissen durch Zwang oder Schuldknechtschaft an den Patron gebunden, riskierten ihre Gesundheit durch körperliche Ausbeutung und arbeiteten unter menschenunwürdigen Bedingungen – wie im Fall von Fraga.
„Moderne Sklaverei“ in Brasilien
In Brasilien werden heute vier Formen von Abhängigkeitsverhältnissen unter moderner Sklaverei gefasst und sind strafrechtlich relevant (Art. 149 StGB): Zwangsarbeit (eine Beschneidung des Rechts den Arbeitsplatz zu verlassen oder aufzugeben); Schuldknechtschaft (eine an Schulden gebundene, oft auf Betrug basierende Knechtschaft); entwürdigende Bedingungen (Arbeit, die die Menschenwürde missachtet, Gesundheit und Leben gefährdet); oder erschöpfender Arbeitstag (der den Arbeiter_innen aufgrund der Intensität der Ausbeutung zur völligen Erschöpfung führt und ebenfalls Gesundheit und Leben gefährdet).
Es dauerte 33 Monate, bis der Name des Viehalters in der "Schmutzigen Liste" der Sklavenarbeit gelistet war. Bis dahin versuchte dieser zweimal per Berufung den Eintrag beim Wirtschaftsministerium abzuwenden. Währenddessen aber führte er die Geschäfte mit führenden Unternehmen der brasilianischen Fleischverarbeitung ungehindert fort. Obwohl bekannt wurde, dass gegen Fraga wegen Sklaverei ermittelt wurde, verkaufte er sowohl an JBS, das weltweit größte Unternehmen für tierisches Eiweiß und Eigentümer führender Fleischmarken, sowie an Marfrig, den weltweit größten Hersteller von Hamburgern. Noch neun Monate, nachdem die sklavenähnliche Arbeit aufgeflogen war, lobte der regionale Leiter der JBS-Marke Friboi den Rindermillionär in einem Fernsehinterview. Maurício Fraga leiste exzellente Arbeit in Pará, bekräftigte der Unternehmensvertreter gegenüber dem Sender Canal Rural.
Arbeitsinspekteur_innen befreien 30 Viehhirten aus sklavereiähnlicher Arbeit als sie 3.850 Rinder des Farmers Maurício Pompeia Fraga transportierte.
Die Unternehmen stellten die Geschäftskontakte mit ihrem Lieferanten Fraga erst ein, als das Wirtschaftsministerium seinen Namen am 5. April 2021 in der „Schmutzigen Liste“ veröffentlichte. „Die Personalie und alle mit ihm verbundenen Immobilien sind sofort für den Kauf von Rindern durch JBS gesperrt“, teilte der Konzern unmittelbar nach der Veröffentlichung mit. JBS erklärte sein Zögern damit, dass es die Sperrung erst mit dem offiziellen Eintrag durchführe, denn allein „aufgrund der Inspektionen zu sperren, würde die „Schmutzige Liste“ delegitimieren, eine historische Errungenschaft im Kampf gegen Sklavenarbeit".
Auch die Marfig versicherte, dass es den Lieferanten in seinem System blockieren werde: "wird eine Nichteinhaltung der Einkaufskriterien festgestellt, einschließlich der Aufnahme in die Liste für Sklaverei, sperrt das System automatisch den entsprechenden Lieferanten und verhindert die Lieferung." Ferner bekräftigte der Konzern, dass „der Produzent Maurício Pompeia Fraga zum Zeitpunkt der gemeinsamen Geschäfte nicht auf der Liste stand sowie alle erforderlichen Kriterien erfüllte“.
Die Straflosigkeit bei menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen ist nach wie vor einer der größten Engpässe im Kampf gegen moderne Sklavenarbeit in Brasilien. Während im zivilrechtlichen Bereich Strafen verhängt werden, sind strafrechtliche Sanktionen noch selten. Unklare Zuständigkeiten zwischen Landes- und Bundesebene lassen die Fälle oft verjähren. Die mangelnde Aufklärung und hohe Straflosigkeit bei sklavereiähnlicher Ausbeutung veranlasste die Regierung im Jahr 2003 die „Schmutzige Liste“ einzuführen, um wenigstens ökonomischen Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Daher ist es möglich, dass Fraga bisher von keinem Gericht verurteilt wurde und Monate zwischen Inspektion und seinem Eintrag in der „Schmutzigen Liste“ vergingen.
Falsche Versprechen der Fleischindustrie
Fraga war jedoch keinesfalls der einzige Ausbeuter, dem Multis der Fleischindustrie Rinder abkauften, wie Repórter Brasil und die britischen Zeitung The Guardian im Juli 2020 berichteten. Demnach wurde JBS mehrfach darauf hingewiesen, dass sie Schlachtvieh von Farmen bezogen, gegen die bereits wegen sklavereiähnlicher Arbeit ermittelt wurde. Zwar unterzeichneten sowohl JBS als auch Marfig im Jahr 2009 den Verhaltenskodex „TAC da Carne“, mit dem sie sich verpflichteten, keine Rinder von Lieferanten zu kaufen, die wegen illegaler Abholzung bestraft oder wegen Sklavenarbeit angezeigt wurden. Diesem Versprechen werden sie jedoch nicht gerecht. Völlig zu Unrecht behaupten die Fleischkonzerne, die Kontrolle über die Arbeitsbedingungen bei ihren Lieferanten zu haben.
Missbrauch und Ausbeutung der Landarbeiter_innen haben in Brasilien Tradition. Oft kommen sie aus weit entfernten Regionen des Landes und finden nur saisonal Beschäftigung, weshalb der gewerkschaftliche Organisationsgrad unterdurchschnittlich niedrig ist. Auf den meist abgelegenen Farmen oder Plantagen sind sie der Willkür der mächtigen Großgrundbesitzer- oder Rinderzüchter_innen ausgesetzt. Mehr als die Hälfte aller aufgedeckten Fälle von Sklavenarbeit der letzten 25 Jahre entfiel auf die Rinderzucht, wie Untersuchungen von Repórter Brasil ergaben (siehe „Monitor #8 zur Sklavenarbeit in der Fleischindustrie). Die Viehzucht ist zudem der Sektor, in dem die meisten Arbeiter_innen aus sklavereiähnlichen Bedingungen herausgeholt wurden. Ganze 31 Prozent aller 17.253 Personen, die Arbeitsinspektor_innen und Polizist_innen zwischen 1995 und 2020 befreiten, entfielen auf diesen Bereich.
Die Arbeiter_innen schliefen neben der Herde in improvisierten Zelten. Für die 900 km lange Strecke zu Fuß würden sie vier Monate benötigen.
Straflosigkeit und politische Verstrickungen
Dabei spiegeln diese Zahlen keineswegs das gesamte Ausmaß, sondern nur die tatsächlich aufgedeckten Fälle wider. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich viel höher – und sie steigt. So deckten Arbeitsinspekteure im Jahr 2008 über 134 Fälle von Sklaverei auf und befreiten dabei 1.045 Menschen. Zehn Jahre später waren es hingegen nur noch 28 Fälle und 118 gerettete Personen, zeigen Zahlen der Katholischen Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra (CPT), die sich wie Repórter Brasil für die Befreiung von Personen aus Zwangsarbeit einsetzt. Der massive Verringerung erklärt sich aber nicht durch einen Rückgang von sklavereiähnlicher Arbeit. Vielmehr sank die Anzahl der durchgeführten Inspektionen der Regierung, wodurch weniger aufgedeckt wurde. Dies war sowohl haushaltspolitisch als auch ideologisch motiviert. So kommen viele Verbrecher_innen mit ihren ausbeuterischen Praktiken davon.
Das Fehlen dringend nötiger Inspektionen hat auch mit den engen Verstrickungen zwischen den Tier-Lieferanten wie Fraga, der Exportindustrie und der Politik zu tun. So sitzt beispielsweise Fragas Sohn, Maurício Pompeia Fraga Filho, dem Züchterverband des Bundesstaates Pará (Associação dos Criadores do Pará, Acripará) vor. Der Verband hat sich zur Aufgabe gemacht, Grundstücke mit illegal abgeholzten Flächen für Weideland zu legalisieren. Da sich die Fleischindustrie mit dem Verhaltenskodex „TAC da Carne“ dazu verpflichtet, kein Rind von ehemaligen Regenwaldflächen zu beziehen, unterstützt Fragas Verband Acripará seine Mitglieder dabei, die betreffenden Grundstücke umzuschreiben und reinzuwaschen, so dass den Geschäften mit der Fleischindustrie nichts entgegensteht. Das geschieht auf legalem Weg. Auf der Internetseite von Acripará weist das Logo der JBS auf die enge Partnerschaft hin. Die Steaks landen im Ausland und sind in allen Supermarktketten des Landes zu finden, belegt der Bericht "Steak im Supermarkt, Wald am Boden" (“Filé no supermercado, floresta no chão”) von Repórter Brasil vom Februar 2021. In der Praxis fördern die Fleischproduzenten so nicht nur moderne Sklaverei, sondern auch die Abholzung im Amazonasgebiet.
Autor: Daniel Camargos, Repórter Brasil
Übersetzung/Redaktion Juni 2021: Mario Schenk
Hinweis: Es handelt sich um eine kontextualisierte Übersetzung mit zusätzlichen, erklärenden Informationen. Eingeschobene Absätze sind von der Redaktion erstellt. Der Originaltext erschien am 05.04.2021.
Diese Reportage wurde mit Unterstützung des DGB-Bildungswerk BUND im Rahmen des Projekts Gewerkschaften in Lateinamerika stärken – Ungleichheit bekämpfen produziert und aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert. Für den Inhalt der Reportage ist ausschließlich Repórter Brasil verantwortlich.
Übersetzung und Redaktion wurden gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.