Wohnungslosenbewegung Brasilien- Erster Schritt: Ein Zelt über dem Kopf
Die Wohnungslosenbewegung MTST kämpft in den Randgebieten der brasilianischen Städte für menschenwürdiges Wohnen – und gegen Präsident Bolsonaro.
Als sich die Corona-Krise Mitte März auch in Brasilien verschärfte, waren sie die ersten, die Hilfe in den Armenvierteln leisteten: Aktivist_innen der Wohnungslosenbewegung MTST verteilten Reinigungsprodukte, Lebensmittel und Schutzmasken an Bewohner_innen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten kämpft MTST, die Bewegung der Arbeiter_innen ohne Dach, für menschenwürdiges Wohnen und solidarische Städte – und hat mit spektakulären Massenbesetzungen für Aufsehen gesorgt. Heute gilt sie als einflussreichste soziale Bewegung des Landes und errichtet auch in den Randgebieten der großen Städte gigantische Zeltstädte auf leerstehenden Flächen.
In Brasilien sind die Ungleichheiten extrem. Während sich die Mittel- und Oberschicht in schwer bewachten Wohnanlagen in den zentralen Gegenden abschottet, leben die Menschen in der Peripherie rund um Brasiliens Städte in kleinen Hütten aus Backstein und Wellblech. Zugleich stehen aber Millionen Wohnungen zu Spekulationszwecken leer. Aufwertungsprozesse und Immobilienspekulation machen auch vor den Randbezirken nicht halt und führen zu stetig steigenden Mieten.
Immer mehr Menschen landen so auf der Straße. Allein in der 20-Millionenmetropole São Paulo leben rund 2 Millionen Menschen in Favelas, die meist auf irregulärem Land entstanden sind und sozio-kulturelle und architektonische Spezifika haben. Rund 360.000 Familien haben keinen eigenen Mietvertrag. Sie müssen zum Beispiel bei Verwandten unterkommen. Bis zu 40.000 Menschen sind obdachlos
Ende der 1980er Jahre entstanden die ersten Wohnungslosenbewegungen in Brasilien. Heute werden alleine in São Paulo mehr als 90 Häuser besetzt gehalten. Die MTST agiert vor allem in den Randgebieten der großen Städte. »Wir wollen dort aktiv sein, wo die armen Menschen wohnen - vor allem in der Peripherie«, erklärt Josué Rocha, Koordinator der Bewegung.
Mit dem Aufbau der großen Zeltstädte klagt die MTST eine verfehlte Stadtpolitik an und bietet tausenden Familien ein Dach über dem Kopf. Ist ein Gelände besetzt, beginnen die Verhandlungen. Die progressive brasilianische Verfassung gibt den Besetzer_innen in vielen Punkten Recht, Eigentümer_innen können enteignet werden, um Platz für sozialen Wohnungsbau zu schaffen. Doch die Verbindungen zwischen Politik, Justiz und Immobilienkapital sind ein offenes Geheimnis.
Trotzdem: Der MTST ist es in den vergangenen Jahren gelungen, durch Besetzungen zahlreiche Gelände zu erkämpfen und dort in Eigenregie Wohnanlagen zu bauen. Die Mittel für den Bau kommen vom Staat, den Rest stemmt die Bewegung: Auswahl der Fläche, Erstellung der Grundrisse, Organisation des Baus.
Beim konventionellen sozialen Wohnungsbau werden die tatsächlichen Baukosten so stark wie möglich gesenkt, um die Profite zu erhöhen. Es entstehen uniforme, kleine Wohnungen mit geringer Qualität. Die Bewegung geht es anders an. Kollektive Planung und soziale Kontrolle verhindern eine Extrarendite für die Baufirmen. Das gesparte Geld wird in die Wohnungen gesteckt, die darum größer und besser sind. Vielleicht noch wichtiger: Die Armen gestalten selbstbestimmt und gemeinschaftlich ihren Stadtraum.
Doch es geht der MTST nicht nur um Wohnraum. »Man kann die chronischen Probleme in den Städten nicht nur mit dem Bau von Wohnungen lösen«, meint Koordinator Rocha. Die MTST versteht sich als breite soziale Organisation, die an verschiedenen Fronten kämpft: gegen Rassismus, den Bildungsnotstand und die Auswirkungen der neoliberalen Politik.
Die MTST arbeitet auch mit Gewerkschaften zusammen. Insbesondere zu der durch Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bekannt gewordenen Metallarbeitergewerkschaft, die im Gewerkschaftsverband CUT organisiert ist, gibt es enge Verbindungen. Im Gegensatz zu den Gewerkschaften mobilisiert die MTST allerdings weniger die klassischen Industriearbeiter_innen und Angestellten, sondern konzentriert sich auf Vorstadtbewohner_innen, die vom formellen Arbeitsmarkt ausgegrenzt sind.
Dass die MTST heute als eine der wichtigsten linken Stimmen des Landes gilt, hat auch mit ihrem bekanntesten Gesicht zu tun: Guilherme Boulos. Der Nationalkoordinator der MTST zog im Oktober 2018 für die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) in den Wahlkampf. Zwar holte Boulos bei der Wahl nicht einmal ein Prozent der Stimmen, er setzte im Wahlkampf aber linke Akzente zu Fragen von Wohnraum, Indigenen-Rechten, Feminismus und LGBT-Politik.
Mit Jair Bolsonaro wurde dann aber ein rassistischer, homophober und neoliberaler Waffennarr zum Präsidenten gewählt. Bolsonaro versprach, die MTST als kriminelle Vereinigung einstufen zu lassen. Doch Koordinator Rocha meint: »Wir haben keine Angst vor Bolsonaro. Wir kämpfen weiter – jetzt erst recht.«
Die Corona-Kampagne der MTST können Sie hier unterstützen: www.vakinha.com.br/vaquinha/ajude-os-sem-teto-a-enfrentar-o-coronavirus
Autor Niklas Franzen lebt als Korrespondent in Brasilien.
April 2020